ReportageTörn um die Pointe du Raz, das Kap Hoorn Europas

YACHT-Redaktion

 · 31.05.2024

Die „Gwenavel“ des Autors vor den Felsen der Tas de Pois nord­östlich der Pointe du Raz. Die Etappe will sorgfältig geplant sein
Foto: YACHT/Wilfried Krusekopf
Die Meerenge an der legendären Pointe du Raz vor der Küste der Westbretagne ist eine der schwierigsten Passagen für Segler. YACHT-Autor Wilfried Krusekopf hat sich der Herausforderung gestellt

Eine letzte Nacht, bevor es losgeht, liegen wir in Port-Louis, gegenüber von Lorient. Hier kamen vor drei Jahrhunderten die Handelsschiffe der französischen Ostindienkompanie an, um feinste Seide, kostbare Gewürze und Edelhölzer aus Indien und von den Molukken zu entladen. Wenn sie denn ankamen. Etwa ein Viertel aller Schiffe, die in Port-Louis ein Jahr zuvor abgelegt hatten, kehrte nie zurück. Im Sturm gesunken, infolge ungenauer Navigation auf Felsen gelaufen, von Piraten gekapert.

Einige scheiterten gar erst am allerletzten Tag, den Heimathafen beinahe schon in Sichtweite. Sie gingen in den strömungsreichen und mit Untiefen gespickten Gewässern der Bretagne verloren. Meist, wenn sie versuchten, trotz Nebels oder auflandigen Sturms Port-Louis anzulaufen. Wer wollte es ihnen verdenken, dass sie sich nach entbehrungsreichen Monaten auf See danach sehnten, endlich im vertrauten Hafen festzumachen.

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Wir wollen uns mit unserer Hallberg-Rassy 39 „Gwenavel“ diese respekteinflößende Küste im Westen der Bretagne genauer anschauen, vor allem die Region an der Pointe du Raz, auch „Europas Kap Hoorn“ genannt. Es liegt sozusagen als Abschlussprüfung in Gezeitennavigation für jeden bretonischen Segelschüler nur etwa 30 Seemeilen südwestlich von Brest. „Kap Hoorn“ deshalb, weil es in Hinblick auf seine imposante Felsenkulisse, die Nebel- und Sturmhäufigkeit sowie die gewaltigen Gezeiten­ströme dem südlichsten Zipfel Amerikas in kaum etwas nachsteht.

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Port Tudy profitierte seinerzeit vom Thunfischfang

Unser erster Tagesschlag soll uns allerdings nur zur vier Meilen der Küste vorgelagerten Île de Groix führen. Aber man glaube nicht, dass man dort mal eben so hinübersegeln kann! Bei Springzeit stehen unter der Zitadelle von Port-Louis am Südausgang der tief eingeschnittenen Bucht von Lorient bis zu vier Knoten Strom. Man ist also gut beraten, nicht zu versuchen, bei Flut auszulaufen. Überhaupt werden Ti­den­tabellen und Stromatlanten in den nächsten Tagen unser täglich Brot sein. Vor allem gilt es, in den strömungsreichen Passagen eine Wind-gegen-Strom-Lage zu vermeiden. Dann baut sich an manchen Küstenabschnitten eine wilde See auf.

Port Tudy, der pittoreske Hafen der kleinen felsigen Île de Groix, ist im Spätsommer noch recht gut besucht. An den drei kurzen Schwimmstegen sind alle Plätze belegt. Wir erwischen noch eine freie Muringboje im Vorhafen, sodass der Landgang mit dem Aufpumpen des Beiboots beginnt. Bei „Ty Beudeff“, der charmanten, wenn auch etwas heruntergekommenen Segler-Kultkneipe, trifft sich nicht nur das seefahrende Inselvolk zum Abendbier. Man findet sie auf dem Weg hinauf zum Dorfzentrum.

Wir sprechen den Wirt auf den Thunfisch an, der die Spitze des Kirchturms ziert. Alain, Enkelsohn des Kneipengründers, erzählt gern, wie hier auf Groix vor mehr als hundert Jahren in der Blütezeit des Thunfischfangs in jedem Spätsommer täglich Hunderte hölzerner „Thoniers“ ihren Fang anlandeten. Damit konnte nicht nur die Inselbevölkerung versorgt werden, durch den Weiterverkauf kam vorübergehend sogar ein gewisser Wohlstand auf. Heutzutage werden die Familien der Insel von ihren Vätern, Söhnen und Töchtern versorgt, die in der Marine oder Handelsschifffahrt ihre Heuer verdienen.

Bei den Glénan-Inseln beläuft sich die Wasserstandsänderung durch die Tide auf bis zu sechs Meter

Am nächsten Morgen heißt es, früh aufzustehen. Wir wollen den nach Nordwesten setzenden Ebbstrom nutzen, um im Laufe des Tages 30 Seemeilen bis zur nächstgelegenen Inselgruppe zu absolvieren, den Îles de Glénan. Auf der Rückseite des gestern durchgezogenen Tiefs bläst uns allerdings ein steifer Nordwest auf die Nase. Klar, die Pointe du Raz wird niemandem geschenkt! Und so werden aus 30 Meilen direktem Kurs eine rund 50 Meilen währende sportliche Kreuz bei 6 Beau­fort. Im freien Wasser ist das kein Problem, der Tidenstrom ist hier mit nur etwa einem Knoten recht gering.

Nach dem gestrigen Regen, der aus einer fahlgrauen Stratusdecke fiel, genießen wir heute die immer weiter aufreißende Bewölkung. Nachmittags können wir schließlich den Leuchtturm von Penfret am Horizont ausmachen, der östlichsten der Glénan-Inseln. In Lee des Archipels wird der Seegang von Minute zu Minute geringer, und so bergen wir endlich nach einem anstrengenden Segeltag Groß und Vorsegel. Unter Motor wagen wir uns in das vor uns liegende Labyrinth aus Sandbänken und Felsen.

Wer sich die Seekarte der Glénans anschaut, wird spontan denken: „Unmöglich, dort mit einer Segelyacht mit zwei Meter Tiefgang zu segeln.“ In der Tat zeigt die Karte zwischen den Inseln teils Wassertiefen von nur einem halben Meter. Aber wir sind nicht im Mittelmeer, sondern auf dem Atlantik mit einem hier gewaltigen Tidenhub. Bei den Glénan-Inseln beläuft sich zur Springzeit die Wasserstandsänderung zwischen Hoch- und Niedrigwasser auf bis zu sechs Meter! Selbst bei Nippzeit sind es noch zwei Meter.

Doch auch, wenn ausreichend viel Wasser da ist, einfach wird es dann noch immer nicht: Zwischen den sieben permanent aus dem Wasser schauenden Eilanden liegen Hunderte kleiner und kleinster Felsen, die je nach Tidenstand mal sichtbar sind, mal knapp unter der Wasseroberfläche auf Beute lauern.

„Raz“ ist Keltisch für „strömungsreiche, gefährliche Passage vor einem Kap“

Drei der Inseln sind im Sommerhalbjahr von Segelschülern der École de Voile des Glénan in Beschlag genommen. Nur eine Insel ist fast ganzjährig von einer Handvoll wetterfester Bretonen bewohnt. Aus den Romanen von „Commissaire Dupin“ kennen inzwischen auch viele Nichtsegler die mystischen Glénan-Inseln mit ihren rätselhaften Protagonisten.

Von Groix haben wir uns vier Baguettes, drei Dutzend Austern, gesalzene Butter, Käse und ein paar Flaschen Muscadet mitgebracht. Lebensmittelgeschäfte zum Verproviantieren gibt es auf den Glénan-Inseln nicht. So verbringen wir den Abend vor Anker mitten im Archipel mit Blick aufs Fort Cigogne, eine alte Piratenfestung.

Bevor wir in die Koje gehen, müssen wir allerdings noch rechnen: Morgen sind es zuerst 20 Seemeilen nach Westen bis zur Pointe de Penmarc’h, bevor es dann auf die 35 Meilen nach Nordwesten geht bis ins „Raz“. So nennen die Einheimischen die berüchtigte, nur zwei Meilen breite Passage zwischen der Pointe du Raz und der von Stürmen gestutzten Île de Sein. „Raz“ ist Keltisch und bedeutet so viel wie „strömungsreiche, gefährliche Passage vor einem Kap“.

Bevor es zuverlässige Wetterberichte, Radargeräte und Strömungsatlanten gab, hat das „Raz de Sein“ regelmäßig seinen Tribut unter den Seefahrern gefordert. Ältere bretonische Fischer zitieren noch heute manchmal den Spruch „Qui voit Sein, voit sa fin“ – „Wer (die Insel) Sein sieht, der sieht sein Ende“. Hieß konkret: Wer sich vor hundert Jahren mit einem Segelschiff bei auflandigem Starkwind, schlechter Sicht, ungenauer Position und ohne Hilfsmaschine der Küste näherte, hatte nur eine geringe Chance, einen sicheren Hafen wohlbehalten zu erreichen.

Kurz vor der Pointe du Raz

Die 55 Meilen bis ins Raz scheinen uns für den nächsten Tag etwas viel. Es wird bei dem immer noch nordwestlichen Wind nicht möglich sein, genau genug den Zeitpunkt vorherzubestimmen, zu dem wir dort ankämen. Dies aber ist unbedingt notwendig, um zu vermeiden, in eine Wind-gegen-Strom-Situation zu geraten. Nur mit passendem Tidenstrom ist die Passage zu verantworten. Was also tun?

Nur etwa zehn Seemeilen östlich der Pointe du Raz liegt der kleine Fischerei­hafen Audierne. Allerdings ist dessen Ansteuerung ebenfalls tidenabhängig. Sandbänke in der Hafeneinfahrt versperren bei Niedrigwasser den Weg. Erst etwa ab halber Flut ist eine sichere Einfahrt möglich. Bliebe als Alternative eine Ankerbucht westlich der Sandbänke. Dann aber müsste es weiterhin ablandig wehen. Der Wetterbericht macht uns diesbezüglich Hoffnung.

Tatsächlich zeigen sich Aeolus und Poseidon am nächsten Morgen gut gelaunt, und wir können mit einem langen Schlag grob nach Westsüdwest die Pointe de Penmarc’h mit ihren zwei mächtigen Leuchttürmen an Steuerbord lassen. Es kommt sogar noch besser: Gegen Mittag dreht der Wind auf West, sodass wir auch auf dem weiteren Kurs in Richtung Audierne nicht kreuzen müssen. Bestes Atlantiksegeln. Mit mehr als sechs Knoten nähern wir uns unter einem blau-weißen Cumulushimmel der Pointe du Raz.

Die Versuchung ist groß, noch heute Abend den Bug in die berüchtigte Passage zu stecken. Doch ein Blick in Strömungs­atlas und Tidenkalender genügt, um schnell auf den Boden der Tatsachen zurückzukommen. Heute ist es nicht mehr zu schaffen. Also ankern bei Sainte-Evette? Das würde nachts bei dem inzwischen westlichen Wind eine irre Rollerei werden. Dann also ab nach Audierne? Bis dorthin sind es zwar noch 20 Seemeilen. Aber mit unseren sechs Knoten Fahrt könnte es klappen, rechtzeitig dort zu sein. Wir versuchen es!

Wer wagt, gewinnt – wir passieren die Molenköpfe von Audierne gegen 19.30 Uhr mit noch einem guten Meter Wasser unter dem Kiel. Gegen den Ebbstrom geht es unter Motor mit knapp drei Knoten über Grund in Richtung Hafen. Zum Glück hat die Dünung nach­gelassen, sodass wir nicht fürchten müssen, in einem Wellental aufzusetzen. An einem Fischerboot machen wir längsseits fest, anschließend kommen im Hafenlokal Seezunge und ein paar Gläser Sancerre auf den Tisch. Am Vorabend der lange erwarteten und auch etwas gefürchteten Fahrt durchs Raz de Sein könnte man sich als Henkersmahlzeit durchaus Schlimmeres vorstellen.

Wetter, Strom, Gezeiten und Distanzen müssen passen und aufeinander abgestimmt sein – eine navigatorische Herausforderung

Nach dem Abendessen wird die Rechnung für den Höhepunkt des Törns aufgemacht: Morgen sind es etwa zehn Meilen bis zum Raz. Wir stünden also nach etwa zwei Stunden direkt vor der südlichen Ansteuerung. Niedrigwasser ist gegen 11.30 Uhr. Bedeutet, wir müssen spätestens zur halben Ebbe gegen 8.30 Uhr über den Sandbänken der Hafenausfahrt von Audierne sein. Die Ebbe wird dann noch weitere drei Stunden im Raz de Sein von Nord nach Süd setzen, bevor etwa eine halbe Stunde lang Stillwasser herrscht. Danach drückt der Flutstrom anfangs mit drei bis vier Knoten, später mit mächtigen fünf bis sechs gen Norden.

Daraus ergibt sich, dass wir nach dem Passieren der Sandbänke von Audierne etwa eine Stunde zu früh in der Ansteuerung vor dem Raz ankommen würden. Anders gesagt: Wir hätten eine Stunde Reserve. Was will der Segler mehr!

Die Kardinalfrage indes bleibt: Wie wird die Situation im Raz sein? Wollen wir den Flutstrom nutzen, so ergibt sich bei Nordwest mit angesagten 5 Beaufort eine Wind- gegen-Strom-Situation, die bei etwa fünf Knoten Strom in Brechern von bis zu zwei Meter Höhe resultiert. Doch die Alternative heißt, etwa eine Stunde vor dem Stillwasser mit nur etwa zwei Knoten über Grund gegen die Ebbe nach Norden zu segeln. Immerhin bei dann relativ ruhiger See, denn der Wind wird mit dem Strom annähernd die gleiche Richtung haben.

Unsere Entscheidung: Lieber mit nur zwei Knoten und bei relativ ruhiger See in die gewünschte Richtung segeln, als mit elf Knoten Fahrt über Grund einen wilden Ritt durch einen Hexenkessel riskieren. Doch ob die Zeit reichen wird, die etwa zwei Meilen lange Passage des Raz gegen die Ebbe hinter uns zu bringen? Es könnte erneut knapp werden.

Mit etwas erhöhtem Adrenalinspiegel in der Südansteuerung der Pointe du Raz

Zum Glück gibt es noch eine dritte Alternative: Statt die gesamte Passage des Raz in einem Rutsch durchzusegeln, könnte man auf halber Strecke den Kurs nach Westen ändern. Dort gibt es eine Ansteuerung zur Île de Sein, die von der Mitte des Raz de Sein nur etwa zwei Meilen westlich liegt. Dort, näher an der Insel, läuft der Tidenstrom deutlich schwächer.

Die Rahmenbedingungen jedenfalls sind prächtig: gute Sicht, mittelkräftiger kalkulierbarer Wind, eine hoch motivierte Crew, dazu Boot, Segel und Maschine in gutem Zustand. Dank zwei GPS-Geräten an Bord sollte es zudem jederzeit möglich sein, Kurs und Fahrt über Grund präzise bestimmen zu können. Last, not least macht der Skipper das hier nicht zum ersten Mal. Also los, ablegen mit Kurs Pointe du Raz!

Mit etwas erhöhtem Adrenalinspiegel stehen wir am nächsten Tag gegen 13.30 Uhr in der Südansteuerung. Delphine begleiten uns, sie lassen die Anspannung an Bord etwas abflauen. Die Ebbe läuft noch wie vorhergesagt mit etwa drei Knoten nach Süden. Hoch am Wind segeln wir mit ebenso vielen Knoten über Grund und sechs Knoten Fahrt durchs Wasser nordwärts. Die See ist geradezu erstaunlich ruhig in diesem verrufenen Gewässer.

Der Ebbstrom wird nun fast von Minute zu Minute schwächer, und wir schaffen es wie geplant, zum Stillwasser die rote Ansteuerungsbake von Île de Sein Cornoc-Ar-Vaz-Nevez direkt im Westen zu peilen. Die beiden Leuchttürme vor der Pointe du Raz, La Vieille und La Plate, stehen trutzig vor dem imposanten Felsenkap steuerbord querab. Zeit, das Vorsegel einzurollen. Den direkten Westkurs nach Sein können wir so hoch nicht segeln, und es liegen zu viele Steine im Weg. Also Maschine an. Motorsegelnd mit stehendem Groß sind wir eine Meile weiter im Westen endlich raus aus der Strömungsfalle. Nun noch ein kleiner Slalom zwischen drei, vier Steinen, dann können wir an einer Boje im Vorhafen der Île de Sein festmachen. Geschafft!

Wracks diensten als Quelle für Feuerholz

Mit Einbruch der Dunkelheit wird der Himmel ringsum in Farben getaucht. Leuchtfeuer in allen Richtungen: Wir liegen direkt im grünen Sektor des Molenfeuers Men Brial, weiter im Norden strahlt uns Tevennec mit rotem Blinkfeuer an. La Vieille, der unter Denkmalschutz stehende Turm vor der Pointe du Raz, zeigt uns seinen weißen Leitsektor, und der große Leuchtturm von Sein schickt seine vier weißen Blitze periodisch rundum hinaus auf den Atlantik.

Die Île de Sein ist es wert, einen Segeltag zu opfern für einen ausgiebigen Landgang. Zwar brauchen wir für die Insel­umrundung über die brandungsgeschliffenen Steine zu Fuß keine drei Stunden. Dafür aber dauert das Mittagessen bei „Chez Brigitte“ etwas länger. Ragout de Homard steht auf der Speisekarte und eine halbe Stunde später vor uns auf dem Tisch: Hummer, gefangen zwischen der Île de Sein und der Pointe du Raz. Wenn wir das unseren Segelfreunden in Deutschland erzählen, werden sie sagen, wir haben das alles nur geträumt.

So auch die Geschichte vom Inselpfarrer, der davon berichtet, dass seine verstorbenen Vorgänger wohl noch vor einem Jahrhundert in manchen winterlichen Sonntagsmessen den Herrgott angefleht hatten, endlich wieder ein Schiff auf die Felsen zu schicken. Denn nur so konnte die arme Inselbevölkerung während der kalten, stürmischen Jahreszeit, wenn das Fischen zu gefährlich und die Überfahrt zum Festland unmöglich war, an Lebensmittel und Brennholz gelangen.

Riesiger Schiffsfriedhof

In den letzten zwei Jahrtausenden segelten anfangs Griechen, später Römer, dann Wikinger, Hansekoggen, Frachtschiffe der verschiedenen Ostindienkompanien und schließlich Bananenfrachter aus der Biskaya kommend hier vor der Tür entlang. Auf dem Weg nach Brest oder in den Ärmelkanal war eine Annäherung an die von Untiefen gespickte Küste vor Sein und Ouessant nie völlig ausgeschlossen. Zwar segelte man nicht durchs Raz de Sein, sondern möglichst weit westlich der Chaussée de Sein – so werden die 1.000 Steine bezeichnet, die westlich der Île de Sein bis 20 Meilen weit wie eine Nadelspitze in den Atlantik ragen. Trotzdem blieb stets ein gewisses Risiko, mit Mann und Maus auf einer der Untiefen zu zerschellen.

Zu den navigatorischen Problemen bedingt durch die Gezeiten kommt in den Gewässern vor der Westspitze Frankreichs gerade im Sommer eine Nebelwahrscheinlichkeit von satten 30 Prozent hinzu. Alte Seekarten, auf denen die Wracks eingezeichnet wurden, die außerhalb der Fahrwasser liegen, bezeugen eine makabre Realität: Hier im Westen Europas befindet sich ein riesiger Schiffsfriedhof. Wohl nur die Isles of Scilly westlich von Land’s End vor Cornwall können da noch mithalten.

Aber zurück in die Gegenwart: Hatte nicht irgendjemand etwas von einem wilden Ritt im Raz de Sein erzählt? Bisher haben wir davon nichts gesehen. Bei gutem Wetter planen wir stattdessen die Weiterreise für den morgigen Tag in Richtung Camaret. Die Vorhersage verspricht stetigen Westwind mit 4 Beaufort. Mehr brauchen wir auch nicht. Diesmal wird es dennoch etwas sportlicher zugehen, denn wir wollen nun die nach Norden setzende Flut nutzen, während der Wind quer zum Strom steht. Keine allzu brisante Konstellation, aber es ist wohl mit etwas mehr Seegang zu rechnen als bei der Ansteuerung von Sein zwei Tage zuvor.

Das GPS zeigt stolze 11,6 Knoten über Grund, das sind mindestens fünf Knoten Strom

Auf dem Weg zurück nach Osten ins Raz ist dann in der Tat von einigen Yachten, die ebenfalls Kurs Nord segeln, zeitweise nur noch das Rigg zu sehen. Die Rümpfe verschwinden in den Wellentälern, die Dünung hat zugenommen. Im Nu sind auch wir voll im Strom. Wie von Geisterhand bewegt, huschen die der Pointe du Raz vorgelagerten Leuchttürme La Vieille und La Plate an Steuerbord vorbei. Das GPS zeigt stolze 11,6 Knoten über Grund, das sind mindestens fünf Knoten Strom!

Mitten zwischen den Steinen vor dem Kap motort ein einheimischer Fischer gegen den Strom, während sein Boot gut und gern 40 Grad nach beiden Seiten rollt. Zwei Meilen weiter im Norden lässt der Strom deutlich nach, aber mit immer noch über acht Knoten über Grund nähern wir uns dem letzten Hafen vor Brest: Camaret.

Der Ort war bis in die 1930er Jahre ein Langustenfängerhafen. Dessen traditionsreiche Seefahrtsgeschichte lässt sich an den Wracks der hölzernen Rümpfe eindrucksvoll ablesen, die trockengefallen vor der langen Mole langsam vor sich hin rotten. Interessanterweise sieht man seit wenigen Jahren wieder bretonische Langusten in den Kisten heimischer Fischer. Das ist erstaunlich, war man doch fast ein Jahrhundert lang davon ausgegangen, dass die Tiere in der Bretagne infolge von Überfischung ausgerottet worden seien.

Wir liegen für eine Nacht im Port Vauban, einer kleinen Marina, die gern von durchreisenden Yachten aus der Biskaya kommend oder aus dem Ärmelkanal segelnd in Richtung A Coruña besucht wird. Jetzt im Spätsommer mischen sich hier Crews von Yachten aus Deutschland, Dänemark, England, Schweden, Norwegen und den Niederlanden. Alle mit dem Ziel „ab in die Wärme“. Einige wollen ins Mittelmeer, andere zu den Kanaren, manche in die Karibik.

Nur noch acht Meilen sind es für uns bis Brest. Dann ist es geschafft, die Abschlussprüfung für unsere Crew gemeistert, die Freude über das gemeinsam Erreichte zu Recht groß. Und wer weiß, vielleicht wird der ein oder andere später einmal seinen Enkelkindern vom großen Abenteuer am „Kap Hoorn Europas“ erzählen.

Revier-Informationen

Das Revier

Die Bretagne ist ein gezeitengeprägtes, anspruchsvolles Segel­re­vier, das ambitionierte Segler begeistern wird. Der Tidenhub variiert in Brest je nach Mondphase zwischen zwei und neun Metern. Die Küste ist abwechslungsreich, versehen mit zahlreichen Ankerbuchten zwischen felsigen Kaps sowie vielen Mari­nas und einfachen Fischerhäfen. Zudem gibt es rund um die vielen vorgelagerten Inseln gute Ankermöglichkeiten. Das Essen ist hervorragend, frische Meeresfrüchte kann man in jedem Hafen kaufen.

Anreise

Mit Flieger oder Bahn bis Paris. Dann ab Paris/Gare Montparnasse mit dem TGV in drei Stunden nach Lorient oder Brest. Fliegen von Paris nach Lorient oder Brest ist möglich, lohnt sich aber nicht wegen der langen Wartezeiten auf den Flughäfen.

Wind & Wetter

Beste Segelzeit ist von April bis Oktober. Im Sommer liegt die mittlere Windgeschwindigkeit bei 3 bis 4 Beaufort. Allerdings können jederzeit atlantische Tiefdruckgebiete mit Starkwind von auch mal bis zu 8 Beau­­­fort durchziehen. Die mittlere Windstärke liegt im Winterhalbjahr bei 4 bis 5 Beaufort, doch ziehen dann häufiger Sturmtiefs durch. Die Lufttemperatur im Sommer pendelt zwischen 15 und 28 Grad Celsius, die Wassertemperatur variiert zwischen 16 und 18 Grad in den Sommer­monaten.

Charter

Literatur & Seekarten

  • Hafenhandbuch: „Atlantic France“ von Nick Chavasse, Edition Imray, 2023
  • Navigation: „Segeln in Gezeitengewässern“, Wilfried Krusekopf, Delius Klasing 2020
  • Revierführer: „Reed’s Nautical Almanac“ und das französische Pendant „Bloc Marine“, jährlich aktualisiert
  • Landgang: „Bretagne-Reiseführer“ von Wilfried Krusekopf, Reise-Know-How, 2024
  • Seekarten: NV-Verlag FR 4+5
  • Stromatlas: F 560-UJA „Atlas des courants“

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