SchleimündeZeitreise durch die Gästebücher der “Giftbude”

Marc Bielefeld

 · 30.12.2024

Das heutige Mündungsgebiet der  Schlei wurde 1795 künstlich angelegt. Der Leuchtturm 1871 erbaut
Foto: Nico Krauss
Schleimünde und die „Giftbude“ sind Kult und Sehnsuchtsort, wovon die alten Gästebücher der abgelegenen Pinte rares Zeugnis geben. Eine Hommage an hochprozentiges Seglerglück

Es gibt Orte, die kann sich keiner ausdenken. Die machen nicht viele Worte und sind doch in aller Munde. Und dann wollen da alle hin. Einmal im Leben, aber am liebsten jeden Sommer. Einfach nur hier sein und das tun, worum es am Ende geht – das Leben genießen. Ein Zauber liegt in der Luft, die Magie ist naturgegeben.

Schleimünde ist so ein Ort. Im Norden steht die markante Baumgruppe. Im Osten, auf der Mole, der grün-weiß gepönte Leuchtturm. Ansonsten aber ist da oben im Grunde nicht viel. Nur weites, nasses Land. Davor die Ostsee. Grünes Wasser umspült die Sandbänke und Riffe, Schilf leuchtet an den Ufern. Auf den Salz­wiesen staksen Watvögel, über den Muschelbänken kreisen Austernfischer.

Sonne, ja, die gibt es. Doch schon fegt die nächste Böe über die Windwatten, ziehen Wolken über diesen Streifen aus hellem Sand. Wassererde, Landmeer – dieser Ort kann sich nicht entscheiden, was er sein will. Aber das braucht er auch gar nicht. Er ist eben beides. Manche behaupten, es handele sich um das schönste Fleckchen Erde zwischen Flensburg und Rügen. Wohl kaum ein Ostseesegler, der die Koordinaten noch nicht in sein GPS getippt hat. Woran mag das liegen? Nun, vielleicht auch daran, dass hier oben seltsame Dinge geschehen.

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Das Schönste an Schleimünde: Es ist nur mit dem Boot zu erreichen

Erwachsene Männer beginnen plötzlich damit, Segelboote zu zeichnen. Sie beginnen zu reimen, womöglich gar zu singen. Mit ziemlicher Sicherheit werden sie noch ein zweites Bier trinken. Danach spaziert der typische Schleimündebesucher über den Steg zurück zu seinem Schiff und sitzt einfach nur in seinem Cockpit. Denn das ist ja überhaupt das Schönste an diesem Ort: Er ist nämlich nur mit dem Boot zu erreichen.

Die Präsenz des Wassers ist jedoch nur die eine Sache, die dieses Plätzchen so magisch macht. Es gibt hier oben, umrahmt von windgebürsteten Wiesen, nämlich noch ein weiteres Phänomen, das Schleimünde berühmt gemacht hat. Eine Bude. Nichts als ein Häuschen mit ein paar Stühlen und Tischen. Drinnen gibt es Platz für 30 Gäste. Draußen, auf den Terrassen, können noch mal 30 sitzen. Je nach Windrichtung und Sonnenstand.

Seelenruhig steht die Butze inmitten der flachen Welt und begrüßt die Wasserreisenden mit unaufgeregter Geste. Tischreservierungen gibt es nicht. Nicht mal im kleinen Hafen nebenan lässt sich ein Liegeplatz vorbestellen. Der Fairness halber, sagen die Betreiber. Wer kommt, der kommt eben.

Blick auf die Insel an der Schleimündung. Einst war hier die Familie des Lotsen zu Hause, die auch die „Giftbude“ bewirtschafteteFoto: Nico KraussBlick auf die Insel an der Schleimündung. Einst war hier die Familie des Lotsen zu Hause, die auch die „Giftbude“ bewirtschaftete

Die “Giftbude”, ein Sehnsuchtsort der Ostsee

Wenn die Besatzungen festgemacht haben, folgt der große Moment. Sie betreten eine Kneipe zur See, die es wohl nur einmal gibt. Eine Mixtur aus Schankstätte und Fischbude, umflogen von Säbelschnäblern und Rotschenkeln. Eine Kombi aus Hafenpinte, Pommesparadies und Matjeshimmel, die es in der Tat nicht noch einmal geben dürfte auf diesem Planeten.

Ein Muss im Logbuch. Ein Epizentrum im Geflecht der ostseeischen Sehnsuchtsziele. Entsprechend mystisch der Name dieses Orts: „Giftbude“. Jeder kennt die Hütte. Hat von ihr gehört. Die kleine Gaststätte war schon immer der Mittelpunkt hier draußen auf der einsamen Lotseninsel. Hier wollen alle hin. Hier wollen alle sein – im Sanctum Sanctorum von Schleimünde.

Ursprünglich war Schleimünde ein Nothafen

Dabei war anfangs alles ganz anders. Hier wollte niemand hin! Lange diente Schleimünde als Nothafen. Wen es einst hierher verschlug, der war gestrandet oder saß sonst wie fest. In den 1920er Jahren wurde die besagte Bude darum errichtet: um Schiffern und Arbeitern bei miesem Wetter Unterschlupf zu bieten, ein trockenes Bett, ein warmes Essen. Daher auch der Name. Hier gab es eine „Gift“, wie es im Althochdeutschen heißt. Eine „Gabe“ für eingewehte Seeleute.

Und nein: Hoch die Tassen, Glück voraus – so lautete die Devise damals keinesfalls. In die „Giftbude“ fiel ein, wem da draußen Wind und Wetter um die Ohren flogen. Schleimünde war Zufluchtsort. Für einige womöglich gar die letzte Rettung.

Die Umdeutung erfolgte nach dem Krieg. Erste Sportboote steuerten die pittoresk umbrandete Mündung an. Spitzgatter, Yawls und hübsche Kreuzer tauchten plötzlich vor dem Leuchtturm auf. Denn längst hatte es sich herumgesprochen: „Traumrevier da oben! Und dann diese Bude!“ Die Boote kamen aus Kiel, Hamburg, Berlin. Und bald wurden es immer mehr. Flottillen von Ruderbooten, Kajakverbänden und Kanutenjungs steuerten Schleimünde an. Nicht mehr als Nothafen – sondern um dort frei heraus ihren Spaß zu haben.

Der Stopp an der “Giftbude” gehört dazu

Sie kamen aus dem Norden, dem Süden. Kein Boot, das die Schlei verließ, um die Weiten der Ostsee zu erkunden, verpasste es, hier einen Stopp einzulegen. Kein Boot, das aus den Weiten der Ostsee zurückkehrte, ließ es sich nehmen, hier wieder festzumachen. Losfahrbier. Heimkehrbier. Ach egal, hier floss ja schon immer alles vor sich hin. Die Ostsee, die Schlei, die Wolken, der Regen.

So wurde Schleimünde zu einer Art Kehrwiederparadies – und die kleine Bude zum Inbegriff aller seglerischen Ostseefantasien. Ein norddeutscher Saloon am Rande der schleswig-holsteinischen Prärie, gelegen irgendwo da oben zwischen Dänemark und Kiel, zwischen sagenhaften Außenposten, die Namen tragen wie Pommerby, Maasholm und Schubystrand.

Die Gästebücher der “Giftbude” als Zeitzeugen

Heute kennt jeder die „Giftbude“. Sie ist ein Ostsee-Unikum: Kult. Doch was hier oben an so manch feuchtfröhlichem Abend wirklich schon alles geschah, nun, das wissen wohl nur die Wiesen und der Wirt. Umso dramatischer ein Vorfall, der sich vor einigen Jahren ereignete. Ein Pächterwechsel stand an. Erst der alte, dann die neuen Betreiber der „Giftbude“ misteten aus, räumten um, machten neu. Und dabei drohten auch sie zu verschwinden: die alten Gästebücher, die seit den Nachkriegsjahren hier auslagen.

Jan-Willem Paulsen aus Arnis schritt geistesgegenwärtig ein, kurz bevor die Preziosen im Müll landen konnten, und bewahrte das hochprozentige Kulturgut vor dem Untergang. „Diese Bücher dürfen nicht weg! Das sind Zeitzeugen! Das sind Schätze!“

Und so sind sie zum Glück noch da. Vier alte zerfledderte Bücher, die Seiten gelb und fleckig. Darauf: Segelschiffe – gezeichnet. Wolken, Wind und Sonne – hübsch skizziert mit Kuli, Filzer, Bleistift oder was auch immer gerade zur Hand war, als das zehnte Bier kam. Und weil kein Witz ist, dass gestandene Skipper zu reimen beginnen, wenn sie in Schleimünde aufschlagen, stimmt auch das: Die Gästebücher der berühmten „Giftbude“ stecken voller Zeilen, Sprüche, Poesie. Die Ostsee, die Sommer, die Schiffe und der Wind. Das geballte Glück des Lebens – festgehalten auf Papier.

Sturm, Spaß und Spirituosen

Ein Blick in die Gästebücher offenbart denn auch, wie Schleimünde zur Saga wurde – vom Nothafen zu einem Ort des Verlangens und des Lebensdursts. Aus dem Mai 1957 stammen die ersten Einträge. Schlichte Zeilen wie diese: „Der Wind blies mächtig, doch wir hatten Mut. Wir fuhren nach Schleimünde, das war gut.“ Unterzeichnet: die Besatzung des „Seelöwen“ unter Käpt’n Helmut Homfeld aus Kiel.

Ein wenig mehr Bier und womöglich Stärkeres müssen geflossen sein, bevor ein Besatzungsmitglied diese prosaischen Zeilen ins Gästebuch krickelte: „Das Meer ist grün, das Klo verstopft – immer steht jemand davor.“ Auf der nächsten Seite dieses Motiv: ein skizzierter Seebär mit Pudelmütze und Pfeife im Mund. Signiert von Rudolf Halmschlag, Mai 1957: „Pustedöfchen – ich wer uk hier“. Ähnlich simpel, dafür wohl eher ironisch gemeint der Kommentar von der dreiköpfigen Besatzung der „Drachenfliege“: „Das ganze Leben wäre leichter zu ertragen, wenn diese verdammte Segelei nicht wäre!!!“

So nahmen die Sommer da oben in Schleimünde ihren Lauf. Boote kamen, Boote gingen. Und der Ruf dieses Fleckchens Erde schwoll mit jedem Kielwasser, das sich im grünen Nass vor der „Giftbude“ verlor. Unzählige Geschichten blieben zurück. Fantastische Anekdoten und sagenhafte Abende, die sich da oben am glucksenden Ufer vermutlich zutrugen.

Inzwischen ist es Juni 57, die Nächte schon heißer, als die Crew einer Jolle ihren Schleimündeaufenthalt im Gästebuch so umreißt: „Die Fahrt war ziemlich hart, doch er wuchs mächtig, unser Bart. Waren wir auch nass und durchgefroren, Bier und Rum blieben nicht ungeschoren. Mein Käpt’n tat nach einem schönen Mädel fragen, das ließ auch mein Herz höher schlagen.“

Männertörn und Mädchenkutter, in den Gäste­büchern sind die reisenden Segler friedlich vereintFoto: PrivatMännertörn und Mädchenkutter, in den Gäste­büchern sind die reisenden Segler friedlich vereint

“Die Mädels an der Schlei sind gar nicht prüde”

Unten auf der Seite, die Zeilen krängen bereits leicht, ist dieses Resümee zu lesen: „Die Mädels an der Schlei sind gar nicht prüde, drum bekamen wir wenig Schlaf und waren immer müde.“ Wie viele Tage und Nächte die Mannschaft dieses durch den Sommer streunenden Sportboots am Ende blieb, ist nicht mehr zu rekonstruieren. Zum Schluss, fein aufs Papier gezeichnet, segelt die Schaluppe davon. In der Sprechblase das Kommando: „Hol die Schot dicht!“

Wie Embleme kollektiver Seglerlust lesen sich die Einträge in den Gästebüchern. Seitenweise Sommerglück unter weißen Tüchern. So geht das bis in die 1960er Jahre. Bunte Schiffe und tolle Kähne kreuzen da übers Papier inmitten stilisierter Wolkenbilder und wilder Wasserwelten.

Kontaktanzeige via Gästebuch

Das alles gemalt und fein gezeichnet, signiert von tausend Crew-Namen, dekoriert mit allerlei Lebensweisheiten. Da schreibt zum Beispiel die Besatzung der Segelyacht „Seeteufel“ – vermutlich selig vor der „Giftbude“ hockend – diese Zeilen nieder: „O Schreck, o Graus, bald sind wir wieder zu Haus. Im Urlaub war alles wunderbar. Ach könnten wir doch die Zeit verdrehen, wir würden wieder zur Ostsee ziehen.“ Gezeichnet: Kapitän Heinz und Smutje Friederike Lühmann, Schleimünde, 6. August 1963.

Im Sommer 1969 versteigt sich eine Dame gar zu einer Kontaktanzeige in einem der Gästebücher. Ihren Urlaub habe sie in Schleimünde verbracht, notiert sie leserlich, „auch viele schöne Stunden in der ,Giftbude‘“. Ohne eigenes Boot formuliert sie weiter: „Kann nicht segeln, aber dafür kochen und auch wieder klar Schiff machen. Bin sehr groß (1,72 m), schlank, blauäugig, kurze dunkelblonde Haare und 20 Jahre jung. I can speak Englisch, too! Please, I like to get your letter.“

Ach, Schlei. Wie schön kannst du doch verführen und münden in purer Segellust. „Auf baldiges Wiedersehen“, schreibt der nächste Skipper unverhohlen. Und kippt nach: „Im nächsten Jahr kommen wir wieder und saufen uns bei den netten Wirtsleuten mausedickevoll.“

In den 80er und 90ern werden die Einträge nüchterner

Bis durch die 1980er Jahre ziehen sich die Einträge in den Gästebüchern der „Giftbude“. Heitere Vermerke ohne Ende sind zu lesen, Kommentare von Schiffsbesatzungen aus allen Himmelsrichtungen, wobei die poetischen und bildmalerischen Elemente nun schon deutlich schwinden. Die Reime nehmen ab, kaum noch handgefertigte Zeichnungen füllen die Seiten. Ende der 1990er Jahre scheint die Gästebuchtradition à la „Giftbude“ endgültig ins Straucheln zu geraten. Vermutlich tauchen nun die ersten Segler mit Handys auf. Und dann geschieht, was geschehen muss. Das Wort ist tot, das Selfie siegt. Ja, auch da oben an der Schlei.

Dem frohgemuten Dasein an der Schleimündung tut dies keinen Abbruch. Die Segler kommen und gehen bis heute. „Giftbude“ bleibt nun mal „Giftbude“: ohne Frage einer der umwerfendsten Plätze an der Ostsee.

Allein: Eine Selbstverständlichkeit ist dieser Ort mitnichten – das Mündungsgebiet der Schlei ist vielmehr eine dynamische Landschaft, geformt von Wind und Wellen, jedes Jahr aufs Neue verformt durch Stürme und Strömungen. Manchmal nagen die Wellen bedenklich an den Strandwällen, steigt das Wasser über die Uferkanten. Dann wieder leuchten die trockenfallenden Sände, malt die Sonne alles blau und silbrig an. Auch hier ist eben alles im Wandel, im Fluss. Nichts bleibt. Darum musste der Mensch auch immer wieder nachhelfen, damit dieser Ort überhaupt existiert.

Schleimünde ist im ständigen Wandel

Die schiffbare Verbindung zwischen Ostsee und Schlei, die wir heute kennen und an deren nördlichem Ufer die „Giftbude“ steht, wurde vor über 200 Jahren künstlich angelegt. Arbeiter befestigten Molen, spülten Sediment davon, errichteten Schutzmauern. Die einzige natürliche Durchfahrt hatte lange Zeit viel weiter im Norden gelegen, doch irgendwann wurde die Passage zu seicht, bis sie schließlich versandete. Zwischen diesen beiden Wasserströmen liegt die Lotseninsel. Mal eine echte Insel, dann wieder Teil des Lands, verbunden durch Sände und Watt, überzogen von Gras und Schlick.

Allemal ein erhabenes Plätzchen für die coolste Pinte zwischen Kiel und Kappeln. Hier draußen mit dem eigenen Boot festzumachen und die salzige Kehle mit einem ordentlichen Schluck zu kühlen – dies dürfte einst wie heute zu den himmlischsten Segelerlebnissen zählen, die zu haben sind. Ein Gästebucheintrag vom August 1995 bringt es auf den Punkt. Die Crew des Kreuzers „Elguste“ hält fest: „Hier – hier in Schleimünde-,Giftbude‘ –, hier mit ,Elguste’ im Wasser, hier im Wind und über uns der Himmel, war ich Gott am nächsten.“

Mehr geht nicht.

Nur einer, der geht sicher noch!


Hilfsaktion für Schleimünde

Das kleine Idyll an der Mündung des Ostseefjords wurde von der Sturmflut im Oktober stark beschädigt und ist für Sportboote vorerst gesperrt. Für den Wiederaufbau werden rund 130.000 Euro und viele Stunden freiwilliger Hilfe benötigt. Der Förderverein naturnaher Wasserwanderplatz Schleimünde ruft mit seiner Aktion „Gemeinsam Schleimünde retten“ zur Mithilfe in jeglicher Form auf, egal ob durch eigene Arbeitskraft, mit Baugeräten, Material oder finanziell. Der unten abgedruckte Link führt zu einem Formular, über das Art und Umfang der Hilfe angeboten werden können. Die Initiatoren koordinieren die Hilfsangebote.


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