Text: Christoph Heine
Es ist Mitte Mai, Mitternacht, wir haben die Halbinsel und den Leuchtturm Kolka am Spätnachmittag passiert und motoren nun Kurs Südost Richtung Riga. Beständiges Hochdruckwetter sorgt für wenig Wind. Am Nachmittag konnten wir zwar noch 20 Meilen segeln, aber dann ist er wieder eingeschlafen und seitdem schnurrt der Yanmar im Untergeschoss. Da aber der DWD auch für die nächsten Tage keine Änderung vorhersagt, haben wir uns entschieden, die 120 Seemeilen von Ventspils nach Riga über Nacht und in einem Schlag zu fahren, um die erwartete Flaute für eine Stadtbesichtigung zu nutzen.
Das Wasser ist fast spiegelglatt und die Magie besteht darin, dass es in dieser Nacht zum ersten Mal nicht mehr richtig dunkel wird. Obwohl der Polarkreis noch weit weg ist, erreicht hier die astronomische Abend- bereits die Morgendämmerung. Monika schläft im Salon, ich bin alleine und genieße jeden Augenblick.
Ein Frachter kommt aus Riga entgegen, aber wir haben genug Abstand und so sehe ich nur eine rote und zwei weiße Laternen passieren, ohne in den Autopiloten eingreifen zu müssen. Dann geht der Mond auf, die lettische Küste ist schemenhaft zu sehen. Ich genieße jeden Moment, obwohl es zwei Uhr morgens ist. Es sind diese Momente, die uns immer wieder faszinieren auf dieser Reise durch Litauen, Lettland und Estland.
Überhaupt: Mitte Mai sind wir auf See meist einsam. Selten sehen wir andere Segler, deutsche Crews treffen wir nur zweimal, einmal in Ventspils und dann in Tallinn. Bei uns ist das Baltikum offenbar ein noch recht unbekanntes Revier, was natürlich auch daran liegt, dass es einigermaßen weit entfernt und nicht einfach zu erreichen ist.
Für meine Frau und mich kam die Gelegenheit für rund Ostsee plötzlich im Frühjahr 2024. Wir mussten keine 24 Stunden überlegen. Bei einem Vercharterer in Vorpommern bekamen wir dafür unsere „Artemis“, eine fast fabrikneue Dehler 34. Sie segelt schnell, die Technik ist zuverlässig. Nur mit dem 20-PS-Motor ist sie etwas untermotorisiert, was wir bei der anhaltenden Flaute deutlich spüren.
Die Einsamkeit verschwindet schlagartig, wenn wir einen Hafen anlaufen. Die Hafenmeister mögen telefonische Voranmeldung und sind immer hilfsbereit. Vielleicht auch deshalb, weil wir oft die einzigen Gäste sind. Unsere Nationale macht uns oft zur Attraktion des Tages. Nie bleiben wir lange alleine. Mit Englisch kommt man überall durch, oft wird aber auch Deutsch gesprochen, vor allem in Litauen.
Gekommen sind wir über Polen, die Küste entlang, dann nach Danzig. Von Gdynia aus machen wir unseren ersten langen Schlag über Nacht ins Baltikum nach Klaipėda. Dazu gibt es keine Alternative, die 120 Meilen müssen sein. Ende April ist es noch kalt und ungemütlich, vor allem bei Amwind-Kurs, aber ein beständiger Vierer schiebt uns durch die russische Wirtschaftszone nach Nordost. Bei Nachtfahrten koppele ich immer zur vollen Stunde mit dem Bleistift. Sicherheitsmaßnahme, wir haben gehört, dass das GPS öfter mal gestört werden soll.
Etwas abgekämpft erreichen wir am 1. Mai Klaipėda, das früher Memel hieß, und Deutschlands nordöstlichste Stadt war. Neugierig sind wir auf das alte Ostpreußen, das ja so oft verklärt wird. Tagsdarauf segeln wir weiter nach Nida im Kurischen Haff, sehen mit der Nehrung und ihren Dünen eine grandiose Natur und ein etwas arg betoniertes Nida. Dort steht Thomas Manns Sommerhaus, von den Nazis enteignet, von den Sowjets geplündert und abgerissen, heute ein Nachbau. Aber die Idylle ist noch da.
Die Rückfahrt nach Klaipėda treten wir wieder unter Motor bei Flaute an, aber schon nach kurzer Zeit stellt sich heraus, dass das keine gute Idee ist. Auf dem spiegelglatten Brackwasser des Haffs haben sich Myriaden von Mücken niedergelassen, die wir mit unserer Bugwelle aufscheuchen. Ihnen gefällt offenbar die warme Sprayhood und das Teak. Es werden minütlich mehr. Wir ziehen bei strahlendem Sonnenschein alles an Ölzeug an was wir haben und verriegeln alles, den Niedergang, die Fenster. Sie sind in den Jackentaschen, in den Ohren, in der Thermoskanne. Die Invasion hört erst auf, als wir fünf Stunden später den Industriehafen von Klaipėda erreichen.
Nordwind hält uns zwei Tage fest, zu unserem nächsten Ziel im Baltikum, Liepāja, sind es 50 Seemeilen. Diese Strecke wollen wir nicht kreuzen, und so erkunden wir Klaipėda. Das Städtchen ist unspektakulär, aber mit aufgelockerter Innenstadt, Alleen und Hafenpromenade sehr einladend. Am zweiten Tag kommt ein Kreuzfahrtschiff und spuckt ein paar hundert Gäste aus, aber sie verlieren sich auf den ausladenden Plätzen und auf dem Wochenmarkt. Wir liegen im Flüsschen Danes, direkt vor dem Kastellhafen an historischer Stätte. Vor 500 Jahren machten genau hier die Koggen und Holken der Hanse fest.
Dann tut sich ein Wetterfenster auf, Ostwind! Ideal für Liepāja und Lettland. Halbwind und kaum Fetch, perfekt! Dumm nur, dass es in der Nacht liegt. Um 22 Uhr machen wir die Leinen los. Das findet die litauische Grenzpolizei offenbar merkwürdig, sie verfolgt uns mit einem Speedboat und stellt uns zwei Seemeilen nach der Ausfahrt. Nach ein paar Erläuterungen und der Angabe unserer Schiffsdaten über UKW lässt man uns ziehen. Die Grenze nach Russland ist ohnehin gut gesichert, aber man sucht wohl eher Schmuggler als Kriegsschiffe. Und schon gar keine deutschen Segler.
Liepāja war uns bisher völlig unbekannt. So wie fast alle Städte im Baltikum empfängt sie uns mit einer kleinen aber feinen, nagelneuen City Marina und mit typisch baltischem Charme: Holzhäuser, die halb schwedisch, halb russisch anmuten, große Promenaden mit vielen Blumenkübeln und immer auch eine große Markthalle.
Das besondere an Liepāja ist der Stadtteil Karosta. Bereits die Zaren haben erkannt, dass der eisfreie Hafen militärisch von Bedeutung ist, die Sowjets haben ihn ausgebaut. Sagenhafte einhundert Kriegsschiffe lagen im Kalten Krieg hier stationiert, immer im Alarmzustand, bereit im Krisenfall auszulaufen und die Hoheit über die Ostsee sicherzustellen.
Für 20.000 Soldaten und ihre Familien wurde eine Plattenbausiedlung errichtet, heute eine Geisterstadt. Aber gerade wegen der Geschichtsträchtigkeit ist uns Karosta einen Ausflug zu Fuß wert. Inmitten der ganzen sowjetischen Tristesse erhebt sich eine prächtige orthodoxe Kathedrale. Ein äußerst liebenswürdiger Kirchendiener freut sich sehr über Gäste und lädt uns ein zum Glockenspiel.
Segeln in Lettland bedeutet Abwechslung. Neben größeren Städten wie Liepāja, Ventspils und der Hauptstadt Riga gibt es Häfen in kleinen und kleinsten Ortschaften, wie Pāvilosta oder Skulte. In Pāvilosta kommt mir der Hafenmeister irgendwie bekannt vor und tatsächlich: Es ist Girts, der mich im Jahr zuvor auf der Messe in Düsseldorf mit Informationen zum Revier versorgt und mich mit der Idee, in Lettland zu segeln, überhaupt erst infiziert hat!
Wir lernen, dass Pāvilosta ein Ferienort für die wohlhabenderen Letten ist, die vor allem wegen der Ruhe und Entspannung kommen. Skulte in der Rigaer Bucht ist ein winziges Dorf mit einem Holzhafen, in dem ein Segelclub auch Gäste aufnimmt. Acht Liegeplätze werden dafür bereitgehalten. Den Chef des Segelclubs bekommen wir zwar nie zu Gesicht, aber per WhatsApp und Telefon ist er praktisch rund um die Uhr für uns da, erkundigt sich, ob wir etwas brauchen, gibt Wandertips.
Noch einsamer ist es in Salacgrīva. Der Hafenmeister muss das Waschhaus erst in Betrieb nehmen, offenbar sind wir nicht nur die einzigen, sondern auch die ersten Gäste der Saison. Es ist klein, aber tiptop gepflegt, wie so oft hier. Über die Brücke, die den Salaca überspannt, fahren lange Militärkonvois und verbreiten Lärm und Nervosität.
Die Letten sind aber nicht nervös, überhaupt lebt man hier offenbar in Eintracht mit den Russen zusammen, von denen es nicht wenige gibt. Beim Abendspaziergang treffen wir eine Gruppe russischsprechender Kinder. Offenbar mögen sie meine Frau, aber da wir kaum Russisch und sie kein Deutsch oder Englisch sprechen, bekunden sie ihre Sympathie, indem sie uns von ihrem Obst abgeben.
Mitte Mai erreichen wir Estland, damit wäre das Baltikum komplett. Als erstes laufen wir die alte Hansestadt Pärnu an. Sie hat so gar nichts Hansestädtisches aber dafür einen sehr lebhaften und geschäftigen Yachtclub, dessen Peresonal uns fast liebevoll umsorgt. Das Spektakel der Mittwochsregatta sehen wir von unserem Logenplatz im Cockpit beim Abendessen an.
Kihnu ist nach Rügen die erste Insel auf unserem Törn! Ein winziges aber idyllisches Eiland mit Birkenwäldern, einem Leuchtturm aus England, einem kleinen Heimatmuseum und einem Tante-Emma-Laden. Per Leihfahrrad machen wir eine Tour, die Insel ist so klein, dass man nach drei Stunden damit auch fertig ist. Dann macht uns wieder einmal das Wetter einen Strich durch die Rechnung. Beständiger Westwind durchkreuzt unseren Plan, Kuressaare auf Saaremaa anzusteuern und wir geben ihn schweren Herzens auf, nachdem der YR auch am Morgen nichts anderes meldet.
Stattdessen also direkt nach Norden, über die Insel Muhu weiter nach Haapsalu, das auf einer Halbinsel in einer weiten Bucht liegt, die so seicht ist, dass sie an eine Lagune erinnert. Und wieder erleben wir ein charmantes Städtchen mit baltischen Holzhäusern und einer Burgruine, in der wir zufällig in ein hinreißendes Folklorefestival hineinlaufen. Das flache Gelände und die extrem langen Sonnenuntergänge, die aus der goldenen Stunde drei Stunden machen, lassen uns die besondere Stimmung mit allen Sinnen erleben.
Dann geht es an die letzte Etappe Richtung Osten, nach Tallinn, hinein in den Finnischen Meerbusen. Die Küste ist hier stark zergliedert, wir entscheiden uns daher für lange Schläge um Strecke zu machen. Vor den Toren Tallinns liegt eine brandneue Marina, wir laufen sie an, denn der Hafenführer zeichnet sie als sehr komfortabel aus. Wir wollen uns etwas erholen, aber haben die Rechnung ohne den Wirt gemacht: Kakumäe ist das Dorado der estnischen Party People, die vor allem durch laute, dröhnende Musik und ebensolche Motoren auffallen. Wir bleiben nur eine Nacht. Wer Partys mag, der ist hier richtig, wir sind es nicht.
In Tallinn machen wir dafür gleich drei Nächte fest. Von den vielen Möglichkeiten entscheiden wir uns für den Museumshafen Lennusadam, der auch einen Steg mit Liegeplätzen für Gäste bereithält. Die sehr freundliche Hafenmeisterin hat uns schon kommen sehen und steht am Steg bereit, um unsere Leinen anzunehmen. Außerdem ist sie eine wandelnde Touristeninformation.
Der Liegeplatz vor der alten Werfthalle, in der heute ein Schifffahrtsmuseum untergebracht ist, zwischen Eisbrechern und Militärschiffen ist einfach spektakulär, und vielleicht gerade deshalb hat Lennusadam den berühmten Wohlfühlfaktor. Direkt auf der Mole vor dem Steg gibt es auch eine Bar, aber leider sind wir drei Tage zu früh.
Das Stadtbild von Tallinn ist genauso imposant wie auf den Fotos im Reiseführer. Allerdings ist die Stadt auch schon Ende Mai voller Touristen, weshalb man schon mal vom Café in der Altstadt abgewiesen wird. Aber wir halten uns sowieso lieber an das lokale Geschehen, finden Flohmärkte, auf denen estnische Kunst und sowjetische Militaria gehandelt werden und lassen uns wieder mal von der baltischen Küche überzeugen.
Rote Bete und Sauerrahm spielen hier eine wichtige Rolle, außerdem Bratkartoffeln und Beerenobst. Fisch sowieso. Und auch die Neuzeit ist hier heftig angebrochen, zum ersten Mal kaufen wir in einem vollständig unbemannten Supermarkt ein.
Eine Busfahrt zum estnischen Freilichtmuseum lohnt sehr, das Personal ist in verschiedenen estnischen Trachten gekleidet und pflegt Brauchtum und Handwerk. Man sieht also nicht nur Steine und Holz, sondern auch Menschen, die Freude daran haben, ihre Kultur zu zeigen und zu erklären.
Dann heißt es Abschied nehmen von Tallinn. Eigentlich stand Narwa an der russischen Grenze noch auf dem Plan, aber es ist zu abgelegen, noch 150 Seemeilen entfernt. Außerdem sagt die Wettervorhersage für den 1. Juni einen Ost 4 voraus, hervorragende Bedingungen für den langen Schlag von Tallinn nach Helsinki. Den wollen wir nutzen! Exakt einen Monat waren wir im Baltikum, er wird uns als magischer Mai im Gedächtnis bleiben. Wir haben Land und Leute kennengelernt – und werden sicher wiederkommen.
Das Revier ist seglerisch nicht sehr anspruchsvoll. Allerdings ist zu bedenken, dass gelegentlich lange Strecken zwischen den Häfen zurückzulegen sind. Es empfiehlt sich daher dringend, in der Crew einen Wachführer mit entsprechenden Fähigkeitsnachweisen zu haben, damit Fahrzeiten von länger als zehn Stunden geplant werden können. Es gibt kaum Tide.
Die Häfen im Baltikum sind jedoch für größere Segelyachten aufgrund kleiner Becken manchmal eine Herausforderung. Auch ist man bereits ab 2 m Tiefgang oft schon an der Grenze des Machbaren. Yachten ab 10 m Länge sollten vor der Einfahrt immer erst Verbindung mit dem Hafenmeister aufnehmen, sich einen Liegeplatz zuweisen lassen und Hinweise unbedingt beachten. Die meisten Häfen haben Fingerstege, manche Heckbojen, daher Bojenhaken mitnehmen! Bei starkem Seegang erlauben manche Häfen die Einfahrt nicht mehr!
In Klaipėda muss die Einfahrt zusätzlich beim Hafenamt über UKW angemeldet werden. Die baltischen Staaten haben in den vergangenen Jahren viel in die Infrastruktur der Marinas investiert. Bei den Fremdenverkehrsverbänden bekommt man qualitativ hochwertiges Infomaterial, wie Hafenführer, Revierführer und Törnplaner sowie navigatorische Hinweise. Für Estland und Lettland: eastbaltic.eu, für Litauen: southcoastbaltic.eu
Informationen über das Befahren russischer Hoheitsgewässer im Transit ohne Visum und Hafenaufenthalt („friedlicher Durchgang“) gibt die Deutsche Botschaft: germania.diplo.de/ru-de/search (Suchbegriff: „Information für Segler“)
Alle baltischen Staaten gehören zum Schengen-Raum und haben den Euro als Landeswährung. Kartenzahlung ist überall möglich, für den Besuch von Wochenmärkten empfiehlt sich jedoch, etwas Bargeld mitzuführen. In abgelegenen Häfen kann es möglicherweise gar keine Versorgung geben. Ansonsten findet man selbst in kleinen Ortschaften oft Restaurants mit guter lokaler Küche und immer auch Einkaufsmöglichkeiten. Für die Hauptstädte Riga und Tallinn sollte man mindestens einen, besser zwei Tage für die Erkundung einplanen.