Marc Bielefeld
· 20.08.2025
Der Segler vom Liegeplatz nebenan, ein gewisser Herr Kolle, steckt seine Nase unter der Persenning hervor. Fragt, ob ich Skat spielen wolle. Seine Worte werden vom Wind zerrissen. Ich kann kein Skat spielen. Ich mag generell keine Kartenspiele. Ich will nicht. Dann schreie ich durch den Sturm zurück: „Von mir aus gerne!“
Skat spielen? Ich bin zum Segeln hier! Meilen machen. Urlaub, Freiheit, Wind und Weite atmen. Und nun willige ich, der Teufel muss mich reiten, zum Skat spielen ein – so weit muss es erst mal kommen. Der Herr Kolle nickt, ruft, die Handkante zum Windschutz an den Mund gepresst: „Bestens! In einer halben Stunde bei uns an Bord!“ Dann verkriecht er sich wieder unter seiner regentriefenden, windumtosten Persenning, sein Rücken beult das Tuch.
Es ist Juli. Hochsommer. Und auf Drejø, der kleinen Insel im südfünischen Archipel, geht die Welt unter. Dabei ist sie eigentlich wie gemacht für herrliche Stunden beim Sommertörn, mit hübschen Reetdachhäusern unter ferienblauem Firmament und in der Sonne leuchtenden Blumen – stattdessen sturmgeprügelte Felder, wolkenverhangene Ferne, durchdringende Nässe, herbstliche Kühle. Und kein Entkommen.
Das ganze Eiland ist eingeweht. Die Segler sind’s, auch die Bauern, zwei von ihnen bugsieren ihre Trecker in die Schuppen. Selbst der Hund vom Fahrradverleih hat sich verkrochen. Dänische Südsee. Es ist nicht zu leugnen, beizeiten tragen die schönsten geografischen Namen die bitterste Ironie in sich. Und ich gehe gleich Skat spielen! Dabei ist dies erst Tag eins in Sturm und Dauerregen, Stunde zehn, zweites Tuborg, erster Rum.
In der Kajüte meines kleinen Winga-Kreuzers steht ein Eimer auf der Koje, wo es seit Stunden reinleckt. Die Petroleumlampe in der Vorpiek hängt schief und wackelt, sogar der Rumpegel im Glas neigt sich, obschon das Boot gut vertäut ist. Draußen zischt der Sturm in erschreckenden Oktaven. Der Wind drückt auf den Mast, Nordost sieben, Böen acht, er zwingt das alte Holzboot auf die Seite. Wir krängen! Im Hafen! An Segeln ist nicht zu denken.
Was habe ich heute schon alles erledigt? Die Luvleinen gedoppelt. Zweimal Kaffee gemacht. Drei Stunden gelesen. Nickerchen gehalten. Aufgewacht. Leinen abermals geprüft. Persenning festgezurrt. Zweimal die nassen Socken gewechselt. Noch ein Nickerchen. Irgendwo auf Seite 496 abermals eingepennt. Boden gewischt. Dann eine Regenpause genutzt, um zum Købmand zu laufen: ein Liter Milch, zwei Schachteln Zigaretten, ein kleines Schwätzchen, ein schnelles
Tuborg vorm Laden, geschützt vor Wind und Wetter. Der Gang zum Købmand war zweifelsohne das mit Abstand herausragende Ereignis des Tages. Im Grunde ist das Verb wehen ja ein äußerst schönes Wort. Der Wind weht. Flaggen wehen. Das schmeckt nach Leben. Doch schon rein sprachlich geschehen kuriose Dinge, erweitert man das Verb mit dem schlichten Präfix „ein“. Das Verb bezieht sich auf einmal nicht mehr auf den Wind und auf die Flaggen. Es erklärt den Segler zum Bezugsobjekt! Er ist eingeweht. Das schmeckt keineswegs nach Leben, sondern nach aufgezwungener Passivität. Er wird vom Winde verdonnert zur Ohmnacht. Und dazu, Dinge zu tun, die er gar nicht will. Eine Situation, die ihn nicht nur mit den Unbilden des Wetters konfrontiert – sondern vor allem mit sich selbst.
Noch machen sich die meisten Mut. Ach was, halb so schlimm. Ein Tag im Hafen, das kommt schon mal vor, das verschmerzt der Törnplan. Wir haben genug Puffer. Machen wir halt das Beste draus und ruhen mal so richtig aus.
Das Beste? Schon der Gang von Bord hat mit der sonst üblichen Prozedur des leichtherzigen Bootverlassens wenig zu tun. Ich trage Ölzeug, schaue mir die Festmacherleinen noch einmal genau an, halte mich am Baum fest, Kapuze tief ins Gesicht gezogen, der Gang unwürdig gebückt. Beim Schreiten übers Deck zuckt und zappelt die Persenning, als wolle sie mir eine knallen. Schneller Blick den Mast hoch. Die Fallen, obschon seitlich abgespannt, vibrieren im Sturm wie die Stimmbänder einer Operndiva beim Vortrag in höchsten Tonlagen. Ein Pfeifen, Heulen, Schreien.
Über den bewegten Bug ein behutsamer Schritt auf den glitschigen Steg. Landgang, etwas Abwechslung. Ich studiere, trotz des Ölzeugs mit Wasser auf der Haut, in dem kleinen Holzhäuschen Tafeln zur Inselgeschichte und zur Vogelkunde.
Im kleinen alten Hafen von Dreijø liegen fünf Boote fest. Drüben wollen sie die Stahlyacht zwei Meter nach achtern verholen. Das Wasser im Hafen ist gut einen Meter gestiegen, die Yacht drückt gegen die Mole. Drei Männer zerren an den Leinen wie beim Tauziehen, der Skipper beugt sich über die Seereling, justiert hastig die Fender, rennt wieder nach hinten, begleitet von im Wind zerpflücktem Gebrüll.
„Halt! Erst die Bugleine los!“
„Mach ich ja!“
„Achtung, das Dingi!“
„Über die Winsch belegen!“
„Noch einen halben Meter!“
„Was?“
„Hol dicht! Hol dicht!“
Dramatische Kommandos, nicht geschrien, wohlgemerkt, während das Boot durch hohe See geht, sondern im Hafen. Vor der kleinen Bude stehen drei Segler in Regenzeug, Beine vertreten. Alle zwei Stunden schlurft einer, schwer vermummt, zur Toilette. Schon dieser schlichte Gang bedeutet auf einmal Kurzweil, ist Homo nauticus erst einmal eingeweht und unter Deck festgenagelt. Und eine Einladung zum Skat gerät unter solchen Umständen zu einem Höhepunkt.
Triefend betrete ich das Folkeboot der Kolle-Crew. Zwei Petroleumlampen brennen, ein kleiner Tisch ist aufgebaut, darauf liegen eine Tüte Gummibärchen, Zigaretten, eine Tafel Schokolade. Es warten drei kalte Biere. Drumherum hängt Ölzeug, baumeln Pullover und Hosen, trocknen Mützen und Socken.
Der Sturm beeinflusst sogar das Bergrüßungsvokabular. Der Gast sagt nicht etwa „Hallo, danke für die Einladung“ oder „Oh, schön ist es bei Ihnen an Bord“. Nein, er begrüßt die Crew mit dem so schlichten wie ehrlichen Satz: „Was für ein Scheißwetter!“
Ach was, kontert der Herr Kolle, es habe ja auch was für sich, im Hafen eingeweht zu sein. Da brauche man keine Entscheidungen zu treffen, müsse sich vielmehr Naturgewalt und Schicksal beugen. Tue ja auch mal ganz gut, sich dem Wetter zu ergeben. Nichts tun. Abwarten. Dösen. Wetter hören. In die Koje schlüpfen. Erzwungener Tiefschlaf. Bier am helllichten Tage. Skat spielen.
Irgendwo hat der Mann recht. Gemütlich ist es, wenn man sich einrichtet in dieser Starre und bald nur noch schnarchend die Koje küsst. Ach, lass doch die Welt die Welt sein. Ich mach dann mal nichts. Muss nicht auslaufen, nicht reffen, nicht an Schoten reißen, nicht peilen. Und keiner wirft einem Faulheit vor, man kann ja nichts dafür. Das stoische Innehalten auf einem eingewehten Segelboot wird zur erzwungenen Meditation, wahrhaftiger als bei jedem Yogakurs.
Spätestens nach dem ersten Tag hat es jeder ordentlich Eingewehte drauf: das wirkliche süße Nichtstun, verordnet von ganz oben, von Mutter Natur höchstselbst. Genießen, ohne Reue, ohne Sühne.
Doch es kommt die Stunde, da der im Boot ratzende, ruhende und vor sich hin starrende Segler nach Abwechslung giert. Die Backskisten sind aufgeräumt bis in den letzten Winkel, noch der ollste Tampen mit einem Takling versehen, die defekten Leselampen neu verkabelt und, und, und.
Aber was nun?
Also Skat. Der Herr Kolle erklärt die Regeln, ich fürchte, er ist ein schrecklicher Zocker, und schon kleben wir mit orange leuchtenden Gesichtern hinter den Karten. Stunden später endet Tag eins im Sturm nach diversen Bieren, einer Flasche Rum, drei Tüten Chips, zehn Runden Skat, 15 Euro Verlust – bei noch immer jaulendem Wind.
Es kommt die Nacht. Der nächste Tag. Das Warten gewinnt nun eine neue Dimension. Derweil der Wind weiter zunimmt, verlangsamt sich das Dasein auf sonderbare Weise. Zeit tropft bald dahin wie zäh rinnendes Baumharz. Der in den Hafen und ins Boot gezwungene Segler gewinnt ein neues Gefühl für Zeit und Raum, er nistet sich ein in einer seltsamen Glocke der Duldsamkeit und Ergebenheit. Draußen schließlich wütet ein Gott, gegen den er nichts ausrichten kann. Das Boot wird zum Kokon, zum Raumschiff des Wartens, es driftet durch die Stunden.
Der Wetterbericht verheißt nichts Gutes. Erneut Ost bis Nordost 6 bis 7, in Böen 9. Starkwind- und Sturmwarnungen für fast alle Vorhersagegebiete. Die Wetterlage: bedrohlich. Ein Tief folgt aufs andere. Ein Trog in der Deutschen Bucht soll sich zu einem eigenen Tief entwickeln, das wiederum einen neuen Trog bildet. Auch der Trend für die nächsten drei Tage fällt düster aus. Kein Tag ohne eine Sieben im Programm, von den Schauerböen ganz zu schweigen.
„Eine völlig freakige Wetterlage“, resümiert ein erfahrener Bootsbauer auf seiner Yacht im Hafen am anderen Ende der Insel. „Da ist mit allem zu rechnen.“ Auf dem Steg steht eine Gruppe Männer, in Mützen und Stiefeln, und blickt grimmig zum Horizont. Ein Frau breitet die Arme wie ein Vogel aus und lehnt sich mit allem Gewicht in den blasenden Wind. Das bekannte kleine Spiel bedeutet: Segler, bleib, wo du bist!
Auf den Booten wird das Warten zermürbend. Segler ergeben sich dem nächsten Tag des Nichtsegelns. In einem größeren Schiff haben sich die Kinder von verschiedenen Yachten versammelt, sie beginnen, die ausgelesenen Donald-Duck-Bücher zu tauschen. Ein Skipper hockt reglos in der Kuchenbude, er scheint Spuren der Regentropfen auf seiner Cockpitscheibe zu verfolgen.
Spätestens jetzt kriechen einem unschöne Fragen durch den Kopf. Die Törnplanung droht zu kippen. Schaffen wir es bis nach Samsö, wenn der Wind weiter so heult? Und hoch in den Limfjord, die Truppe vom letzten Sommer treffen? Niemals, dieses Ziel ist längst dahin, wir würden nicht in der Zeit zurück gen Süden kommen. Auf den Booten beugen sich die Mannschaften über die Seekarten. Was geht überhaupt noch in diesem Urlaub? Und über allem hängt eine Frage bleiern in der Luft: Wann hören der verdammte Wind und der verfluchte Regen endlich auf? Von diesem Zeitpunkt hängt alles ab, der ganze Törn. „Wenn es so weiter weht, können wir den Urlaub komplett abschreiben“, sagt einer. „Ein wirklich toller Sommer! Ich habe bald mehr Liter Kaffee und Bier getrunken als Meilen gemacht.“
Unablässig umschäumt die Ostsee in mürrischem Grau die Insel Drejø, aus dem schweren Himmel lugen Avernakø, Ærø, Fünen hervor. Schaumkronen verwehen vor dem Hafenbecken, gestern haben sie sogar die Fähre von Fynshav stillgelegt. Nichts geht. Und schon gar nichts segelt. Eine erste Wut kriecht in den Seglern hoch, und dies ist nun die nächste Phase des Eingewehtseins. Zorn und Frust und eine leise Verzweiflung.
Tag drei, Stunde acht. Weiterhin ist gut Wind gemeldet. Einige bereiten sich auf ein mögliches kleines Wetterfenster vor, sie wollen bei der geringsten Chance los, rüber nach Ærø, sobald das elende Gepuste kurz abebbt. Doch dann die neue, alte Prognose: Südost, zunehmend sieben!
An den Vorstagen wehen inzwischen viel zu viele bunte Klebestreifen, die Tagesmarken vom Hafenmeister. Eine unschöne Dekoration – Bändchen, die Bände sprechen.
Im Inneren richten sich die Verdammten der Insel auf weitere Tage des Rumhängens ein. Der Seewetterbericht ist zum Menetekel geworden, die Wetteraushänge am Toilettenhäuschen kommandieren: Stillgestanden! Auf dem Papier ist die triste Wahrheit hübsch bunt ausgedruckt: dunkelgraue Wolken und Regensymbole die ganze Woche, dazu täglich Windpfeile mit vielen, mit zu vielen Häkchen, kein Tag über 17 Grad. Der Wortschatz der Seglergemeinde ist seit einiger Zeit schon um eine dänische Vokabel reicher: „Kuling“, Starkwind.
Was macht der Mensch mit so viel Wartezeit? Unter den Persenningen und in den abgeschotteten Yachten ist eine Mischung aus Resignation und Gereiztheit förmlich zu spüren. Der gesamte Sommer steht auf dem Spiel. All die lieben Träume vom herrlichen Segeln. Vom leichten Dahinziehen, vom Ankern in blauen Buchten.
Die Aussichten aber bleiben wie gehabt: nichts als Wind- und Regengestöber. Und dann, am vierten Tag im Hafen, fällt erstmals dieser eine Satz, der so eine Art Endstadium dokumentiert, der Eigner einer alten Holzyacht spricht ihn aus: „Segeln ist ein Hobby für Bekloppte, da investiert man so viel Zeit und Geld und Arbeit den ganzen Winter über, um sich am Ende, eingepfercht auf sechs Quadratmetern, tagelang den Regen auf den Kopf trommeln zu lassen – verflucht, ich verkaufe mein Schiff und trete lieber einem Kegelclub bei!“
Die Stimmung kippt. Tiefdruck nicht nur in der Luft, auch in Seglers Seele. Dies ist die Zerreißprobe, alle Motivationsparolen klingen längst wie Hohn. „Wart’s ab, morgen wird es besser“ – „Das Hoch bei den Azoren muss sich doch irgendwann durchsetzen“ – „Morgen laufen wir aus, egal, was kommt!“
Ach ja?
Manche lümmeln seit vier Tagen nonstop unter Deck herum, lesen sich stoisch durch dicke Romane, blättern das x-te Mal in abgegriffenen Magazinen. Die Hand fährt mit einem gewissen Automatismus in die Süßigkeitenkiste. Die große Gammelei, unterbrochen nur durch die Seewetterberichte. Morgens, abends. Und immer noch nicht die geringste Spur von Hoffnung.
Wie lange starren wir schon auf die Hecks in der Boxengasse gegenüber und sehen das immergleiche Bild? Taumelnd hängen die Boote in den Seilen.
Das alles erinnert an die letzten Sommerreisen. Dieselbe Geschichte an anderen Schauplätzen, Hjortø, Marstal. Es gehört wohl irgendwie dazu. Da hingen wir fest in vier Folkebooten, geschlagene sechs Tage, ein Starkwind-Marathon mit Stärke 8 und peitschendem Regen aus Ost. Die Kajüten, klein und klamm, wirkten zunehmend wie Gefängniszellen.
Bei so viel Pech und Unbill ist Moral gefragt. Nicht verzagen. Vier, fünf Männer wollen sich zusammenraufen, mit einem Schiff ein paar Stunden raussegeln. Schwerwettertraining. Doch auch dieser Plan erstirbt. Das Barometer steht auf unter 990 Hektopascal an diesem Sonntagfrüh.
Nächster Morgen, Tag fünf: Wind, Regen, wie gehabt – und dann geschieht es. Gegen Mittag reißt der Himmel auf, der Wind legt sich wahrhaftig, eine Stunde später liegt die Dänische Südsee, ein Wunder!, so friedlich und harmlos unter der Sonne, als sei überhaupt nichts gewesen.
Und nun folgt der Beweis, das der Homo nauticus eine unverbesserliche Gattung ist. Eine hoffnungslos ihrem Tun und Streben verfallene Kreatur. Im Hafen, verschwinden die Persenninge, zack, von den Cockpits, Segel knattern, Winschen klacken. Die ersten ziehen hinaus, befreit aus ihrer Gefangenschaft, mit frischer Zuversicht neuen Zielen entgegen. Auf der Stahlyacht steht der gestern noch zeternde Skipper stolz hinterm Steuer, derweil Madame die Fender klariert.
Sie grüßen, „Gute Fahrt!“, andere winken sich fröhlich lächelnd zu, Kinder sitzen barfuß und in orangen Rettungswesten putzmunter an Deck. Reise, Reise, so schnell kann’s gehen.
Auch ich habe meinen Kreuzer umgehend klargemacht. Und segele kurz darauf durch die sommerliche Dänische Südsee, unter weißen Wolken, vorbei an grünen Inseln in blauem Meer. Und entdecke im Stillen an mir das wohl erstaunlichste Phänomen am Eingewehtsein. Eine Stunde genüsslichen Segelns reicht, um selbst den fürchterlichsten Sturmkoller davonzublasen. Wie schnell ist all der Verdruss vergessen, wie flott und leichten Sinnes sind die stürmischen Tage verdrängt, die Wut, die Gereiztheit, sogar das Skatspiel – geschrumpft auf eine Episode am Rande.
Es stimmt eben doch, was der Holzbooteigner sagte: Segler müssen verrückt sein.