Es ist Mitte Oktober und die Szene, die sich in der Neustädter Bucht abspielt, könnte aus einem Hollywoodfilm sein. Wo sich im Sommer Segler tummeln und tagein, tagaus die Skandinavien-Fähren pendeln, liegt ein Tender der deutschen Marine. Der graue Koloss, ein Versorgungsschiff für andere Marineeinheiten, sieht aus wie ein zu kurz geratener Containerfrachter. Ruhig liegt er da, als wolle er mit dem Panorama der nahen Küste verschmelzen.
Plötzlich ist das Dröhnen eines Motors zu hören. Schnell kommt es näher. Nur wenige Sekunden später löst sich ein Sportflugzeug aus dem grauen Himmel. Wie ein Greifvogel stürzt es hinab auf den Versorger, um erst im letzten Moment abzudrehen. Kaum ist der Flieger fort, setzt sich das Kriegsschiff abrupt in Bewegung.
Es ist beeindruckend, wie schnell Tausende Tonnen Stahl in Gang kommen. Immer wieder ändert der Versorger seinen Kurs. Wie ein Hase, der Haken schlägt, scheint er auf den Angreifer aus der Luft zu reagieren. Denn der ist zurück und setzt zu einem neuen Sturzflug an. Was fehlt, um das Bild eines Hollywoodstreifens zu vervollständigen, ist das Donnern von Bordgeschützen. Doch die schweigen an diesem Tag. Der vermeintliche Luftangriff ist eine Übung, kein Ernstfall.
Dass Manöver wie dieses in der Neustädter Bucht stattfinden, hat einen Grund: An Land befindet sich das Einsatzausbildungszentrum Schadensabwehr der Marine; vor der Küste liegt eines der vielen Übungsgebiete. Hier bereiten sich ganzjährig Schiffsbesatzungen auf den Einsatz im Kriegsfall vor.
Ein Sprecher der Deutschen Marine erklärt, dass bei den sogenannten Gefechtsausbildungen unter anderem das „externe Gefecht“ trainiert werde, bei denen zum Beispiel Flugzeuge oder Schnellboote den Angriff simulieren. Beim „internen Gefecht“ hingegen werde geübt, wie beispielsweise auf einen gegnerischen Treffer oder bei einem Brand unter Deck zu reagieren ist.
Von einem Segelboot durch die Linsen eines Fernglases betrachtet ist die Übung ein Spektakel. Gleichzeitig aber hinterlässt sie einen faden Beigeschmack. Sie symbolisiert das, was Politik und Experten seit Monaten verkünden. Stichwort „Zeitenwende“ und „die Lage ist ernst“. Zudem wirft sie die Frage auf, wie sich Segler in einem solchen Fall verhalten sollten. Denn man möchte meinen, dass Begegnungen mit Kriegsschiffen entlang der deutschen Ostseeküste jüngst zunehmen.
Doch ist das Marine-Aufkommen wirklich gestiegen? Oder ist nur der Blick auf die graue Flotte ein anderer geworden, nimmt man sie heute bewusster wahr? Vor allem aber: Wie sollten Skipper handeln, die einem Kriegsschiff nahekommen oder gar unversehens in eine Übung geraten?
Ausgangspunkt ist der Februar 2022, als Russland die Ukraine überfiel. Seither ist die Ostsee zum Schauplatz eines hybriden Konflikts geworden. Das Binnenmeer ist weit mehr als Freizeitoase und beliebtes Segelrevier. Da sind zum einen die Transportwege. Hunderte Frachter und Tanker starten von hier ihren Weg in die Welt. Zum anderen findet sich auf, am und unterm Meer diverse Infrastruktur. Windparks beispielsweise. Oder auch Tausende Kilometer Strom- und Internetkabel, Öl- und Gaspipelines, die am Grund der Ostsee verlaufen. Wie anfällig diese und andere Anlagen sind, haben mehrere dubiose Vorfälle gezeigt.
Einer ereignete sich am ersten Weihnachtsfeiertag 2024. Beteiligt war die „Eagle S“, ein Öltanker der sogenannten Schattenflotte. Damit sind Schiffe gemeint, die Russland benutzt, um internationale Sanktionen zu umgehen. Im Finnischen Meerbusen ließ der Tanker bei voller Fahrt den Anker zu Grund und beschädigte das Unterseekabel „Estlink 2“. Es versorgt Estland mit Strom aus Finnland. Beide Länder werten den Vorfall als Sabotageakt, gesteuert von Russland.
Ungewöhnlich sind auch Fälle, bei denen Schiffe lange Zeit ohne Ortungssignal entlang von Pipelines oder Stromtrassen treiben. Laut dem Deutschen Institut für Internationale Politik und Sicherheit kundschaften sie die kritische Infrastruktur aus. Europäische Sicherheitsdienste gehen von Hunderten solcher russischen Spionageschiffe aus.
Das Problem: Nach internationalem Seerecht können Küstenstaaten die Aktivitäten außerhalb ihrer Hoheitsgewässer nicht einfach stoppen. Die Liste solch ungewöhnlicher Vorfälle ließe sich weiter fortsetzen. Sie verdeutlicht, warum Sicherheitsbehörden immer wieder betonen, wachsam zu sein.
Unlängst haben die deutschen Seestreitkräfte ihre Strategie angepasst. Mitte Mai präsentierten sie in Berlin den „Kurs Marine 2035“. Das Konzept beinhaltet konkrete Maßnahmen, die aus den Erfahrungen des Ukrainekriegs abgeleitet wurden. Abschreckung ist ein Bestandteil dieser Strategie. Zusätzlich wird unter anderem auf schnelle Einsatzbereitschaft und den Einsatz neuer Technologien gesetzt. In Moskau soll man sehen: Deutschland ist bereit für den Ernstfall.
Und nicht nur in Moskau wird das sichtbar. Auch vielen Seglern ist längst aufgefallen, dass Schiffe der Marine und verbündeter Staaten hierzulande präsenter geworden sind. Dadurch soll Einsatzbereitschaft demonstriert werden, sagt Martin Schwarz, Fregattenkapitän und ehemaliger Kommandeur des 3. Minensuchgeschwaders der Marine. Jedoch sei diese Präsenz nicht auf Eskalation ausgelegt.
„Wir reagieren auf eintretende Aktionen und zeigen, dass wir die Lage beobachten und im Bedarfsfall handeln können.“ Fregattenkapitän Martin Schwarz
Schwarz erklärt, dass mehr Schiffe regelmäßig in der gesamten Ostsee unterwegs sind. Das bedeute aber nicht, dass auch die Zahl der deutschen Marineschiffe gestiegen ist. Diese sei in den letzten Jahren sogar zurückgegangen. Das Gefühl, dass mehr Schiffe unterwegs sind, ist laut Schwarz unter anderem auf das gestiegene öffentliche Inte- resse zurückzuführen. „Ich habe den Eindruck, dass Segler inzwischen genauer darauf achten, was die Marine wo und wie unternimmt.“
Auch Rainer Tatenhorst beschäftigt das Thema immer wieder. Er ist Abteilungsleiter Fahrtensegeln beim Deutschen Segler-Verband (DSV). „Bei Vor-Ort-Terminen in Segelvereinen werden unsere Mitarbeitenden fast immer auf das Thema Marine in der Ostsee angesprochen.“ Allerdings halte sich die Menge der Anfragen im Rahmen. Groß sei aber das Bedürfnis, sich über den richtigen Umgang zu informieren. Tatenhorst : „Segelcrews müssen jederzeit darüber im Bilde sein, was in ihrem Fahrtgebiet geschieht.“
Allerdings ist nicht jedes Marineschiff, dem man begegnet, in die Abwehr von Sabotageakten oder Spionage eingebunden. „Die Schiffe, die draußen vor der Küste patrouillieren, sind nicht die, mit denen Segler viel zu tun bekommen“, sagt Schwarz. In den meisten Fällen sind es Marineeinheiten, die den Ernstfall trainieren.
Das ist in der Kieler Bucht, vor Rügen und besonders in der Lübecker Bucht der Fall. Dort liegen Übungsgebiete der Marine. Sie sind in den Seekarten entsprechend verzeichnet.
“Segler müssen jederzeit darüber im Bilde sein, was in ihrem Fahrtgebiet geschieht. Daher auch stets den Funk einschalten!” Rainer Tatenhorst, DSV
Doch nicht immer sind Übungen auch als solche auszumachen. „Selbst ich kann manchmal nicht erkennen, was die da tun“, sagt Fregattenkapitän Schwarz. So kann es sein, dass sich Marineschiffe im Übungsmodus nicht so verhalten, wie es unter Normalbedingungen der Fall wäre. Sie können unvermittelt ihre Fahrtrichtung ändern oder plötzlich die Fahrt drosseln oder beschleunigen. Schwarz: „Damit muss man rechnen, wenn man durch entsprechende Übungsgebiete fährt.“
Dass das manchmal schwer einzuschätzen ist, kann er nachvollziehen. Auch er ist Segler, liegt mit seinem H-Boot in Eckernförde. Grundsätzlich rät er, sich in solchen Fällen klar freizuhalten und aufmerksam und wachsam zu sein. Vor allem wenn man das Fahrwasser kreuze. Dann sei es wichtig, klar zu zeigen, was man vorhabe. Gegenseitige Rücksicht sei wichtig, so Schwarz.
Auch Flaggen des internationalen Alphabets, die Marineschiffe während Übungen hissen, können Aufschluss geben. Sie signalisieren, wann man sich fernhalten sollte oder dies sogar zwingend notwendig ist. DSV-Abteilungsleiter Tatenhorst empfiehlt darüber hinaus, konsequent Kanal 16 zu überwachen. Wenn es einmal enger werden sollte, nehmen Marinebesatzungen via Funk Kontakt mit den Seglern auf.
Strenger geregelt ist die Situation in den Schieß- und Sperrgebieten – etwa vor Putlos oder Schönhagen. Wird hier geübt, dürfen sie von Sportbooten nicht befahren werden. Gelbe Sperrge- bietstonnen und Sicherungsfahrzeuge halten den Bereich frei. Außerdem wird per Funk und im Netz über die Schießzeiten informiert.
Trotzdem kommt es vor, dass Segler verbotenerweise in die Gebiete einfahren. Einige treibe die Neugierde, andere die Unwissenheit, sagt Schwarz. „Wenn ein Segler in den Bereich fährt, stellen wir den Schießbetrieb ein.“ Beschossen zu werden muss also niemand befürchten. Doch es kann teuer werden, denn gegebenenfalls droht ein Bußgeld.
Und auch abseits der Übungsgebiete dürften in diesem Sommer dem ein oder anderen Segler die grauen Schiffe ins Auge fallen. 2025 sind wieder Großmanöver vor der deutschen Ostseeküste geplant.
Neben diesen großen Aktionen wird es entlang der deutschen Küsten verschiedene kleinere Übungen geben. Die Ostsee ist nun einmal ein zentraler Schauplatz geopolitischer Entwicklungen geworden. Für uns Segler sind die direkten Auswirkungen dennoch gering und Wachsamkeit und Rücksichtnahme ohnehin Teil guter Seemannschaft. Wer doch einmal gezwungen ist, wegen einer militärischen Übung seinen Kurs oder gar seine Törnpläne zu ändern, sollte Verständnis zeigen.