Andreas Fritsch
· 22.05.2023
In der Aarhus-Bucht prallt Tradition auf Moderne, geschäftiges Treiben auf dänische Gemütlichkeit. Diese Gegensätze verleihen dem Revier einen unnachahmlichen Reiz – und machen es zum spannenden Törnziel für Segler
Aus dem Dunst vor unserem Bug schälen sich die Silhouetten der „Eisberge“ und des „Leuchtturms“ heraus, je tiefer wir in die Aarhus-Bucht laufen. Klingt nordisch-nautisch, ist aber in Wirklichkeit moderne Architektur. Zackenförmige Gebäudewürfel wirken neben einem alles überragenden Hochhaus tatsächlich wie Treibeisbrocken. Sie und weitere teils futuristisch anmutende Häuserensembles bilden mittlerweile die Skyline von Aarhus – ein auf der Ostsee wohl einzigartiger Anblick für Segler mit Kurs auf die Metropole. Die weiß-blauen „Eisberge“ mit ihren schrägen Abbruchkanten wurden bereits mit einem Architekturpreis bedacht, das „Lighthouse“, der 142 Meter hohe Wolkenkratzer, gerade erst fertiggestellt. Dazwischen finden sich hypermoderne Wohnquartiere, direkt daneben der Container- und Fährhafen.
Am beinahe visionären Baustil scheiden sich die Geister: für Anhänger des verträumten „hyggeligen“ Dänemarks eine Art Kulturschock, für andere die coole Signatur einer Großstadt, die in vielerlei Hinsicht anders sein will. Mit jeder Meile, die wir unter Segeln dem Stadtzentrum entgegengleiten, wächst die Skyline, nimmt immer imposantere Ausmaße an. Und doch: Als die Yacht den ins Meer gebauten, ultramodernen Stadtteil seitlich passiert hat und dahinter in das Becken des Stadthafens einbiegt, ist es auf einmal wieder da, das klassische Dänemark: gut erhaltene Altbaufassaden, der vertraute Turm des Doms, die beiden Türmchen der Schule nebenan, die Traditionsboote im Museumshafen. Aarhus ist Vielfalt. Die Stadt vereint Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Wir tuckern in den Lystbådehavn, einen der zwei Häfen der Stadt. Marselisborg am Südrand der City ist für die meisten Besucher keine Alternative, liegt er doch etwas abseits, und die nahe gelegene Kläranlage schickt bei manchen Windrichtungen ein eher unfeines Aroma hinüber.
Im Stadthafen zieht dagegen ab und an der Duft von frischem Räucherfisch über die Stege – viel besser! Flugs ist eine Box gefunden, selbst im Sommer, denn Aarhus hat einen Vorteil: Im Gegensatz zu Kopenhagen ist der Hafen hier nur selten überfüllt. Irgendwie liegt der Ort abseits vieler Törnpläne. Knapp 20 Meilen geht es tief in die Aarhus-Bucht hinein. So auch für uns, die wir von Tunø herübergesegelt sind.
Die wenigen Touristen verlieren sich im Stadtbild, Aarhus gehört noch seinen Bewohnern. Mit der Yacht liegt man nicht mitten im Zentrum, doch der Weg dorthin ist mit dem Bord- oder Leihrad ein Klacks. Erst aber folgen wir diesem leckeren Fischgeruch, der Segeltag war lang, und so landen wir in Clausens Fischhandel am Hafen. Der entpuppt sich als Dorado für Fisch-Fans, es gibt hier alles Meeresgetier, von der Auster bis zum Zander. Mittendrin steht ein Fischer wie aus dem Bilderbuch: rote Gummihose, Wollmütze, Dreitagebart und tätowierte Arme. Doch statt des obligatorischen Ankers und dem Namen der Mutti finden sich da Abbilder von filetierten Makrelen, eine blubbernde Meerschaumpfeife oder auch Kapitän Haddock aus „Tim und Struppi“.
Aarhus ist eine junge, lebendige Stadt und längst nicht so vom Tourismus überlaufen wie Kopenhagen” (Jakob Clausen, Fischhändler)
Der stolze Tattoo-Träger entpuppt sich als Jakob Clausen, Mitinhaber. „Wir sind Dänemarks ältester Fischhändler, in fünfter Generation seit 1888“, erklärt er. Ob er seit Kindestagen fischt, will ich von ihm wissen. „Ich habe keinen einzigen Tag in meinem Leben gefischt!“, entgegnet er lachend. „Wir sind Händler. Ich wollte Journalist werden, aber dann wurde Vater krank, da musste ich ins Geschäft einsteigen.“
Ob der Fisch denn aber aus der Bucht und den Gewässern rund um Samsø und Anholt kommt, fragen wir weiter. Die Antwort: „Vieles kaufen wir direkt von den Fischern in den großen Anlandehäfen wie Esbjerg“, so Clausen. Von Anholt oder Læsø kämen die Lobster. „Hier vor der Haustür gibt es wenig Fisch.“ Im Sommer empfehle er Makrele, Dorsch eher im Winter. Und dann hat er noch einen Restauranttipp für uns: „Zum Fischessen ins ‚Seafood‘ im Marselisborger Yachthafen. Das ist gut, wenn auch nicht ganz günstig.“
Wir begnügen uns vorerst mit einer Auswahl von Clausens Salaten, Räucherfisch und anderen Spezialitäten, die wir uns vor unserem Boot an den an der Pier stehenden Tischen schmecken lassen. Danach sind wir bereit für eine Tour durch die Stadt. Leihräder sind dafür erste Wahl. Wie Kopenhagen ist Aarhus eine unglaublich fahrradfreundliche Stadt: eigene Fahrspuren neben den Autos, eigene Ampelschaltungen. Apropos Ampeln: Die für Fußgänger zeigen einen Wikinger, der mit Schild und Axt bewaffnet wahlweise brav steht oder geht. Oder losstürmt – wer weiß?
Kreuz und quer cruisen wir durch die Stadt, passieren das Latinerkvarteret mit seinen Studentencafés und Bars. Ein lebendiges Viertel, Bands spielen auf der Straße, hippe Läden laden zum Shoppen ein. Dazwischen traumhafte Straßenzüge. Unbedingt etwas trinken sollte man am Åboulevarden hinter der Fußgängerzone beim Dom. Dort zieht sich ein Kanal durch die Stadt. In den schicken Cafés an der Treppe zum Wasser sitzt es sich mit malerischer Aussicht. Straßenküchen-Fans sei der Food-Markt am Busbahnhof empfohlen, eine kulinarische Weltreise auf engstem Raum.
Im Museumsdorf „Gamle By“ kann man tief in die Vergangenheit abtauchen. Das riesige Ensemble aus ab- und wieder aufgebauten Häusern aus der Region spiegelt das Leben aus drei Epochen wider (1600–1900, 1900–1927 und 1956–1974). Die Gebäude sind möbliert, in Originalkostümen gekleidete Darsteller spielen Marktszenen nach, erwecken die Stadt zum Leben. Ein Freilichtmuseum, das seinesgleichen sucht. Ein Tag verfliegt hier wie nichts, besonders bei gutem Wetter.
Das Aros ist dagegen ein Tipp für Freunde der modernen Kunst. Originelle Installationen und Skulpturen wie der riesige „The Boy“ von Ron Mueck sind hier zu sehen, aber auch viel Malerei. Bekannt ist das Museum zudem für seinen Regenbogen-Gang. Über den spazieren wir bei strahlendem Sonnenschein in luftiger Höhe über den Dächern von Aarhus. Ein kreisrunder Glasweg, dessen Wand in allen Farben erstrahlt und die Stadt dahinter in bunte Töne taucht – ein Erlebnis!
Aarhus wird auch nach drei oder vier Tagen nicht langweilig. Es ist schwer, sich aus der Stadt zu lösen, es gibt so viel zu sehen. Auch im direkten Umfeld des Stadthafens, das wir schon bei der Ankunft von See aus bestaunt hatten. Das ultramoderne Wohnquartier mit wenigen Grünflächen wirkt etwas steril. Doch die originelle Badeanstalt, die Wakeboard-Bahn und die Imbissbuden laden zum Verweilen ein.
Am Hafen herrscht unterdessen emsiges Treiben. Dort liegt eine sehr imposante Flotte dänischer Design-Klassiker: 32 Spækhugger. Die Regattasegler machen ihre Boote klar, schlagen Segel an. Wir kommen mit dem Skipper Jakob Ege Friis ins Gespräch. Wieso es hier so viele der zumeist hübsch restaurierten Boote gibt, wollen wir von ihm wissen. Er sagt: „Aarhus ist die Spækhugger-Hochburg in Dänemark. Das Boot segelt super, ist sicher, bietet aber auch reichlich Segelspaß. Und es ist gebraucht unschlagbar günstig zu haben.“ Viele der Boote würden jungen Leuten gehören, die oftmals Eignergemeinschaften bildeten, so Jakob. „So kannst du Kielbootund Fahrtensegeln zu dem Preis einer Jolle bekommen!“
Damit die Klasse aktiv Regatta segelt, hat der Segelclub alle Spækhugger-Eigner einfach nebeneinander gelegt. Auf diese Weise können die Eigner fachsimpeln und sich gegenseitig ermutigen mitzusegeln. Mit Erfolg: Jeden Dienstag kommen bei der Regatta mindestens 15 Spækhugger zusammen – ein tolles Konzept!
Da wir noch eine Runde durch die Aarhus-Bucht planen, fragen wir Jakob nach Tipps. Der lässt sich nicht lange bitten: „Ich mag ja lieber die Stille in der Natur, eine Nacht vor Anker. Da sind die Knebel Vig, die Begtrup Vig oder Langør auf Samsø im Nordwesten eine gute Wahl.“ Für uns kommen die ersten beiden Plätze leider nicht in Frage, es bläst seit einem Tag mit in Böen 35 Knoten aus Nordwest, der Schwell steht genau in die genannten Buchten hinein. Eher Wetter zum Ablaufen nach Osten. Also Ebeltoft, das zweite große Highlight in der Aarhus-Bucht. Mit raumem Wind und gerefft fliegt unsere Pogo los. Ruckzuck steht eine 10 vor dem Komma der Logge.
Nach nur einer Stunde passieren wir das Leuchtfeuer Sletterhage und biegen in die Ebeltoft Vig ein. Zwischen ersten dunklen Wolken blitzt kurz die Sonne hervor, sie lässt die rot-weiße Häuserzeile vor dem Yachthafen von Ebeltoft aufleuchten. Auf dem Wasser tanzen derweil Schaumkronen. Wir sind froh, als das Boot im Stadthafen sicher vertäut ist.
Im Sommer brummt es in Ebeltoft, die ‘Jylland’ ist unser Touristenmagnet. Aber das Leben, das pulsiert in Aarhus!” (Josefine, Konditorei-Verkäuferin)
Das eigentliche Ziel dieser Etappe liegt direkt vor der Stadt im Trockendock: die Fregatte „Jylland“. Das 1860 gebaute Kriegsschiff ist ein spannendes Relikt, denn es ist ein Hybrid: ein Vollschiff und zugleich mit Dampfmaschine über Propeller fahrbar. Die „Jylland“ war die letzte ihrer Art, danach wurden nur noch Kriegsschiffe aus Stahl mit Maschinenantrieb gebaut. Nach kurzem Einsatz als Kriegsschiff diente sie dem König als repräsentatives Reisevehikel, bevor sie außer Dienst gestellt wurde. Sie durchlief dann verschiedene Stadien des Verfalls, wurde unter anderem als Jugendherberge genutzt, und schließlich in der extra gebauten Museumswerft ab 1984 renoviert.
Für Segler ist der Gang durch das Boot eine spannende Zeitreise, bei der man Erstaunliches lernt. Etwa, dass die „Jylland“ den gigantischen Propeller zum Segeln von der Welle abkuppeln und in den Rumpf hinaufziehen konnte. Wer sich zuvor die sehr empfehlenswerte App „Useeum“ herunterlädt, kann sich an vielen Stationen im Schiff spannende Geschichten zu Schlachten, Fahrten, Schiffsalltag und Schicksalen einzelner Crewmitglieder anhören. Ideal, um einen Sturmtag zu verbringen.
Danach schlendern wir durch die schöne Altstadt Ebeltofts. Die ist mit ihren Fachwerkhäusern wahrlich eine Perle der Aarhus-Bucht. Geschäfte und Ateliers säumen die Kopfsteinpflastergassen, über die allerdings auch zahlreiche Besucher strömen. Dazu gibt es eine gute Räucherei am Hafen und einen großen Yachtausrüster – was will das Seglerherz mehr?
Hängen bleiben wir vor einer Menschenschlange vor dem Café „Sicilia“. Wie sich herausstellt, warten Einheimische hier geduldig, um „Flødeboller“ zu kaufen, zu Deutsch „Sahnebällchen“, bei uns als Schokokuss bekannt. Doch hier verbirgt sich mehr darin und darum. Regelrechte Kunstwerke sind es, die Verkäuferin Josefine feilbietet. Mit farbigen Schokoladen überzogen, mit Toppings aus Früchten und Schmetterlingen aus Marzipan dekoriert, gefüllt mit aller Art Cremes. Der Variantenreichtum scheint grenzenlos. „Wir haben Spaß an saisonalen Kreationen, im Sommer mit vielen Früchten, jetzt im Herbst eher mit Äpfeln“, erzählt die Verkäuferin. Dafür werde als Boden statt der Waffel eigens ein winziger Apfelkuchen gebacken, darauf komme dann die Creme-Masse. Die Kreationen sind so verrückt und begehrt, dass die Konditorei sie sogar schon für Modenschauen in Paris oder Berlin geliefert hat. Einfach köstlich!
Am nächsten Morgen geht es weiter. Der Wind macht kurz Pause, dann soll es zwei Tage lang mit 40 Knoten wehen. Wir verholen uns nach Tunø. Wieder 30er-Böen, wieder fliegt die Pogo. Am winzigen Anleger treffen wir nur noch auf vier Boote, die Saison neigt sich dem Ende zu. Still wirkt die Insel jetzt, die im Sommer oft aus allen Nähten platzt.
Der Spaziergang endet im Supermarkt, Grillgut einkaufen. Die Verkäuferin fragen wir, ob man den legendären Kirchturm, der zugleich Leuchtturm ist, besuchen kann. Sie seufzt. „Der ist im Herbst geschlossen. Hier wird es immer ruhiger, im Winter leben nur noch 60 Menschen auf Tunø, vor sechs Jahren waren es doppelt so viele“, berichtet sie. Die letzten beiden Familien seien gerade weggezogen, die Fährfahrten waren so zusammengestrichen worden, dass die Kinder nicht zur Schule konnten.
„Die Bewohner überaltern, und weil sie viel Zeit haben, kaufen immer mehr in Aarhus ein. Die Geschäfte laufen schleppend“, erzählt sie weiter. Das Kro habe jetzt, Anfang September, nur noch am Wochenende auf. „Vielleicht muss ich diesen Winter zum ersten Mal schließen, die Stromkosten sind so explodiert, das rechnet sich nicht mehr.“
Im Sommer erwacht Tunø zum Leben: Wikingertreffen und Inselfeste ziehen an den Wochenenden Segler in Scharen an” (Supermarktbesitzerin auf Tunø)
So beginnen Geschichten vom Niedergang. Doch so will sie das nicht stehen lassen. „Kommt im Sommer wieder, dann ist der Kirchturm geöffnet, und das Inselfest am zweiten Augustwochenende ist wunderschön!“ Da könne man wegen der vielen Boote trockenen Fußes über den Hafen gehen, es gebe Live-Musik, Spiele und auch ein Grillfest.
Es sind diese Gegensätze, die den Charme der weiten Aarhus-Bucht ausmachen: hier die Metropole mit ihren explodierenden Mietpreisen und keine zehn Meilen entfernt ein aus der Zeit gefallenes Idyll. Wahrlich ein Revier mit vielen Gesichtern.