Tatjana Pokorny
· 12.11.2023
West oder Süd? Diese Frage beschäftigt aktuell vor allem die Imoca-Flotte im 16. Transat Jacques Vabre stark. Was werden die knapp 200 Seemeilen Vorsprung, sie sich die Anführer der West-Ausreißer – Justine Mettraux und Julien Villion auf “Teamwork.net” sowie Sébastien Simon und Iker Martinez auf “Groupe Debreuil” – bei noch rund 2.400 Seemeilen bis ins Ziel erarbeitet haben, in den kommenden Tagen wert sein?
Der Ritt nach Westen auf der nördlichen Transat-Route ist aktuell noch so bevorteilt, dass sogar die Verfolger der ersten Ausreißer die führende Gruppe auf dem Südkurs in den Tracker-Zwischenständen überholt haben. Imocas wie “Freelance.com”, “Monnoyeur – Duo for a Job”, “Fives Group – Lantana Environment” und Pip Hares “Medaillia” lagen an Tag sechs plötzlich auf den Sonntagsplätzen 3, 4, 5 und 6. Ein bisschen wirkte es wie verkehrte Welt in der Imoca-Flotte des Transat Jacques Vabre.
Was daran liegt, dass die drei großen Vorstartfavoriten “For People”, “Paprec Arkéa” und “Charal” am Mittag des 12. November hinter ihnen auf den Plätzen 8, 10 und 11 rangierten. Dazwischen haben sich Boris Herrmann und Will Harris nach ihren technischen Kompass-Problemen, Comeback, Flautenverlusten und erneutem Comeback wieder auf Rang neun vorgekämpft. In der reinen Leistungsbetrachtung der Boote müsste dieses Quartett weiter vorn liegen. Ob die vier da wieder hinkommen können?
Die große Mehrheit der Flotte fährt nach Süden. Ich bin mir eigentlich nicht ganz sicher, warum, aber wir waren uns irgendwie 60:40 einig, dass wir nach Süden wollen” (Boris Herrmann)
Alles wird davon abhängen, wie sich die Winde für die West- und die Süd-Gruppe weiter entwickeln. Zu beachten ist bei den vielen Was-wäre-wenn-Überlegungen auch das nahende Tiefdruckgebiet, dem sich die beiden führenden Boote der West-Gruppe am Montagmorgen zu stellen haben. Es erscheint den Wetterexperten allerdings nicht zu dramatisch. Es folgt aber voraussichtlich am Mittwoch ein heftigeres Tief, auf dessen andere Seite die “Westler” gelangen müssen, um in den Süden eintauchen zu können.
“Malizia – Seaexplorer”-Skipper Boris Herrmann hatte am Samstag den Split der Flotte und auch die eigene Zerrissenheit bei der Entscheidungsfindung erklärt: “Wir hätten auch die starken Jungs sein und die Nordroute fahren können, aber ist das dann noch ein Rennen oder ist das nur eine Wetterlotterie? Ja, alle Modelle sehen besser aus für die Nordroute, aber wir sind hier, um zu lernen und uns mit den besten Booten der Flotte zu messen. Die große Mehrheit der Flotte fährt nach Süden. Ich bin mir eigentlich nicht ganz sicher, warum, aber wir waren uns irgendwie 60:40 einig, dass wir nach Süden wollen. Wir hatten uns aber auch gesagt: Wenn mehr Boote nach Westen fahren, sind wir superglücklich, auch nach Westen zu fahren.”
Doch dieser Fall trat erst verzögert ein. Es waren anfangs nur “Teamwork.net” und “Groupe Debreuil”, die den Ausreißversuch nach Westen wagten. Inzwischen scheinen ihnen neun Boote zu folgen. Boris Herrmann sagte auch: “Chapeau an Seb Simon und Justine, die da draußen unterwegs sind. Sie werden das Rennen höchstwahrscheinlich gewinnen, aber wir wollen mit einer großen Anzahl von Booten konkurrieren, die wir beim Ocean Race nicht dabeihatten. Das ist einer der großen Motivatoren.”
Und so setzen sich Boris Herrmann und Will Harris weiter intensiv mit den Top-Booten und Top-Teams wie Titelverteidiger Thomas Ruyant mit Morgan Lagravière (”For People”), Yoann Richomme mit Yann Eliès (”Paprec Arkéa) und Jérémie Beyou (”Charal”) auf Kurs Süd auseinander, während die West-Boote versuchen, jede nur mögliche Meile Vorsprung herauszuholen. Denn auch sie müssen irgendwann auf Kurs Zielhafen Fort-de France in der Karibik den schwer berechenbaren Hochdruckgürtel nach Süden überqueren und werden dafür das maximale Polster benötigen.
Ihre Aufholjagd haben “Macsf”-Skipperin Isabelle Joschke und Pierre Brasseur am Samstag gestartet. Nach Großsegel-Reparatur in Joschkes Heimatstadt Lorient ist das Duo wieder im Rennen. “Wir sind wieder auf See. Es war praktisch, nach Lorient zu fahren, um unser Großsegel zu reparieren. Aber es fühlte sich auch komisch an, zu Hause zu sein, obwohl man doch längst auf See sein wollte.”
Im hinteren Teil der Flotte segelten Fabrice Amedeo und der Kieler Andreas Baden am sechsten Tag auf See auf Südkurs auf Platz 31 in Richtung Kanaren. Baden berichtete bei seiner Transat-Premiere am Sonntagmorgen vor einer fordernden Nacht: “Die Nacht war hart. Wir haben das Hochdruckgebiet durchquert, das den Teams den Weg Richtung Süden verstellte. Windgeschwindigkeiten von unter zwei Knoten wurden gemessen. Der reinste Stresstest für jeden Segler, wenn man machtlos zusehen und hören muss, wie die schlaffen Segel in jeder Welle laut flappen und nach neuer Energie rufen.”
Für die Süd-Gruppe aber war die Durchquerung des Hochs alternativlos. Auch Andreas Baden sagte: “Da müssen alle durch, die auf die Südroute wollen. Und an sich war die Nacht ja auch gar nicht so schlimm, immerhin ließ es sich in kurzer Hose vorzüglich aushalten, während in der Heimat der ein oder andere wohl schon den Kamin angefeuert hat. Man munkelt, es habe zur Nervenberuhigung Schokolade und ’nen Apfel gegeben. Immer auch was Gesundes ...”
In der Class 40 haben sich Lennart Burke und Melwin Fink etwas von ihren Flautenverlusten erholt, segeln als 19. am siebten Transat-Tag ihrer Flotte in den Top 20 den Kanaren entgegen. Es ist fast ein bisschen schade, dass der Transat-Tracker die vier Klassen nur jeweils für sich zeigt, denn viele Imoca- und Class-40-Boote dürften aktuell im Revier zwischen Madeira und den Kanaren in Sichtweite zueinander segeln.
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