Nils Leiterholt
· 29.06.2024
“Alle Mann an Deck! Alle Mann an Deck! Ganz schnell!“ Raus aus dem Schlafsack, dem Pullover und der Jogginghose und rein in die noch feuchte Öljacke, Ölhose und Segelstiefel. Draußen schlägt der Gennaker unkontrolliert im Rigg, es ruckt im ganzen Schiff. Stress um ein Uhr nachts. Fünf Minuten später stehen wir auf dem Vorschiff und versuchen, das ungebändigte Tuch in den Griff zu bekommen. Doch der Bergeschlauch will nicht herunterkommen.
Bis zu dieser Erkenntnis dauert es allerdings. Also konventionell bergen: platt vor den Wind fahren, Gennaker dicht ziehen und versuchen, das riesige Tuch an Deck unter Kontrolle zu bringen. Zweimal schlägt der Wind dermaßen ins Segel, dass die beiden Männer ganz vorn auf dem Bug es wieder loslassen müssen. Beim dritten Versuch gelingt es: Der Gennaker ist geborgen, die Erleichterung riesig, der Puls am Anschlag.
An Schlaf ist aufgrund des Adrenalinspiegels nach dieser Aktion nicht zu denken. Wir befinden uns an Bord der Pogo 44 „Hotte“ vor der deutschen Nordseeküste. Gestartet waren wir am Pfingstmontag nachmittags vor Helgoland, unser Ziel liegt vor dem Olympiahafen von Kiel-Schilksee, wir segeln das Pantaenius Rund Skagen Race, den deutschen Offshore-Klassiker.
2024 ist, wie in allen geraden Jahren wieder, ein „Skagenjahr“ bei der Nordseewoche. Diese findet traditionell am Pfingstwochenende vor Helgoland statt. Am Freitag vor Pfingsten beginnt das Segelprogramm mit der Elbe-Wettfahrt von Wedel nach Cuxhaven. Abends geht es für die Crews, die zur Sundowner-Regatta nach Helgoland gemeldet haben, dann noch auf die Insel. Die restlichen Zubringerregatten aus den verschiedenen Häfen der Nordseeküste finden im Laufe des Samstags statt. Am Pfingstsonntag starten die Crews zur Traditionsregatta „Rund Helgoland“, bevor es am Pfingstmontag auf die 510 Seemeilen lange Wertung nach Kiel geht, rund um den jutländischen Nordzipfel. In diesem Jahr werden Rund Helgoland und Skagen Rund für die Internationale Deutsche Meisterschaft im Seesegeln zusammen gewertet.
Unsere Ergebnisse von Cuxhaven nach Helgoland und Rund Helgoland hätten mit einer Disqualifikation und einem letzten Platz unter den gestarteten Schiffen unserer ORC-A-Gruppe besser ausfallen können. Dennoch ist die gute Laune unserer sechsköpfigen Crew um Skipper und Eigner Thomas Breuer-Löwenstein ungebrochen. Auch, dass die „Hotte“ zum Sicherheitscheck ausgelost wurde, tut der Stimmung keinen Abbruch, ist unser Boot doch bestens ausgestattet und vorbereitet.
Die gesonderte Überprüfung am Montagmorgen verläuft ohne große Beanstandungen, und somit ist alles vorbereitet für den Start zur großen Wettfahrt. Zuvor müssen wir jedoch die Regattasegel abschlagen und das Trysegel und die Sturmfock setzen. Das hat etwas von Airbag aktivieren, die Sicherheitsausrüstung ist für Hochseeregatten vorgeschrieben und obendrein sinnvoll, aber man will sie nie einsetzen müssen. Das Verfahren erinnert daran, was auf uns zukommen kann.
Nach dem letzten Toilettengang an Land kann es losgehen, und wir legen ab Richtung Sicherheitsgate. Dieses muss vor Regattabeginn einmal unter besagter Sturmbesegelung zur Kontrolle durchfahren werden. Dabei haben sich alle Besatzungsmitglieder mit Rettungswesten und Lifebelts ausgestattet an Deck zu zeigen. Parallel wird geprüft, ob das AIS des jeweiligen Schiffes sendet. Die Anweisungen dazu quäken aus dem Funkgerät auf dem vereinbarten Kanal 72. „Einmal bitte die Crew der ‚Hotte‘“, vernehmen wir. Es ist die Stimme von Markus Boehlich, dem Organisationsleiter der Nordseewoche. Wir stellen uns ins Cockpit, er zählt die Köpfe durch, und nach einem kurzen Moment meint er: „Alles klar, euer AIS ist auch zu sehen. Danke schön und gute Fahrt, wir sehen uns in Kiel!“
Kurze Erleichterung macht sich an Bord breit. Skipper Thomas: „Jetzt bitte die Sturmsegel abschlagen und sauber unter Deck verstauen.“ Und los geht es. Dies ist der Grund, warum der Weg zum Sicherheitsgate von vielen wie eine kleine, gesonderte Wettfahrt angesehen wird: Bis zum Start müssen die Sturmsegel wieder gut verstaut, vor allem aber die großen Regattatücher wieder angeschlagen und gesetzt sein. Der Start verläuft ziemlich reibungsarm und, sagen wir mal, konservativ ; wir queren die Linie ungefährdet etwa 45 Sekunden nach dem Schuss.
Die Nachstartphase erleben wir bis auf den erhöhten Schiffsverkehr bedingt durch die anderen 37 Regattateilnehmer eher ereignisbefreit. Nachdem die ersten beiden Wegpunkte gerundet sind, nehmen wir Kurs auf die Nordspitze Dänemarks. Bis zur Kardinaltonne von Horns Rev halten wir gut mit dem Rest des Feldes mit.
Danach zeigen sich leider die offensichtlichen Schwächen der „Hotte“. Die Pogo 44 ist 12,80 Meter lang, dabei satte 4,50 Meter breit und mit einem Schwenkkiel ausgestattet. Dieser kann den Tiefgang auf 1,38 Meter reduzieren, gesegelt wird mit 3,10 Metern. Rund 36 Prozent der 5,9 Tonnen Verdrängung fährt der Finot/Conq-Entwurf als Ballast im Kiel. Die Stärken der Französin liegen definitiv auf Halbwind-und Raumschots-Kursen. Dann kommt die Pogo bei ungefähr zehn Knoten Geschwindigkeit ins Gleiten. Ein Genuss, der uns über weite Teile des Kurses verwehrt bleiben sollte.
Dennoch: Die Crew aus fünf Freunden genießt die Reise, das für sie seltene Abenteuer Hochsee-Regattasegeln. Was für sie zählt, ist sicheres Ankommen, nicht das Ergebnis. Der Weg bis hoch nach Skagen gestaltet sich auf dem Amwind-Kurs als schwierig. Zudem folgt Wende auf Wende. Zwischendurch kommt es einem wie ein Slalom vor, mal sind es Windparks, mal Frachter oder Untiefen, die unseren Weg bestimmen und uns zur Kursänderung bewegen.
Am frühen Mittwochmorgen scheint Dänemarks Nordspitze dann endlich in Reichweite. Durch die Kreuz und viele Wenden dauert es bis kurz vor Mitternacht, bis wir die Kardinaltonne Skagens Rev endlich an Steuerbord liegen lassen. Hier oben herrscht reger Schiffsverkehr, insbesondere viele fischende Trawler sind unterwegs. Für die eigentlich moderate Windstärke sind die Bedingungen hier, wo Nord- und Ostsee aufeinandertreffen, relativ rau. Zum Runden der Tonne zeigt sich auch die Freiwache an Deck. Das hat an Bord der „Hotte“ zwei Gründe. Zum einen birgt die Passage der Tonne natürlich einen emotionalen Wert: Die Hälfte des Rennens scheint geschafft, das Gröbste gemeistert und der für uns harte Amwind-Part überwunden – zunächst zumindest. Zum anderen wird in Gedenken an Horst „Hotte“ Breuer der See ein Schluck Rum übergeben. Bei allen Crewmitgliedern, die den verstorbenen Vater unserer Skippers Thomas kannten, herrscht eine besondere Stimmung der Andacht. Immerhin trägt das Schiff, auf dem wir segeln, seinen Spitznamen.
Nachdem die See den ersten Schluck Rum bekommen hat, prostet Co-Skipper Dirk Lötsch symbolisch in die Runde. „Auf Hotte“, sagt er kurz, bevor er einen Schluck aus der Flasche kippt. Noch undenkbar zu Corona-Zeiten, nimmt nacheinander der Großteil unserer Besatzung einen kleinen symbolischen Schluck aus der Rumflasche. Den „Pantaenius Rund Skagen“-Rum hatten alle teilnehmenden Mannschaften nach der Steuermannsbesprechung durch den Titelsponsor überreicht bekommen. Mit dabei war auch ein Tracker, der den Familien, Freunden und Fans das Verfolgen der Wettfahrt ermöglichte. Daniel Baum, einer der Geschäftsführer von Pantaenius, der ebenfalls mit seiner schönen hölzernen „Elida“ an der Regatta teilnimmt, betonte vor dem Start einen weiteren Vorteil, den ein Tracking mit sich bringt: „Alles, was die Sicherheit erhöht, sollte im Sinne aller sein.“
Zur Halbzeit haben wir uns langsam eingegrooved. Mit unserer Crew von sechs Personen an Bord fahren wir die „Hotte“ im Drei-Stunden-Wachsystem jeweils mit zwei Personen. Thomas übernimmt die Schicht mit mir. Der Co-Skipper Dirk führt das Schiff zusammen mit seinem guten Freund Jochen, und der Navigator Ralf hat das Kommando in einer Schicht mit seinem ehemaligen Arbeitskollegen und heute gutem Freund Martin. „Ich bin bei drei Parteien, die im Wachsystem integriert sind, ein großer Befürworter von Drei-Stunden-Schichten“, erläutert Dirk, „das bringt mit sich, dass jeder mal unterschiedliche Nachtschichten fährt.“ Spätestens am Morgen des dritten Tages, ist jeder voll im Wachsystem angekommen. Bei mir reift die Erkenntnis, dass insbesondere die Freiwachen vor und nach der Nachtwache wenn irgend möglich zur Erholung genutzt werden müssen. Wer länger an Deck bleibt, bereut das in seiner Wache. So richtig tief schlafen wir an Bord aber selten, schwingt doch immer eine gewisse Unruhe und Bereitschaft ebenso mit, wie wir uns noch nicht an die Schiffsbewegungen gewöhnt haben.
Wir hoffen am Donnerstagabend, im Laufe des Freitags in Kiel anzukommen. Und dass sich das lange Gebolze gegen den Wind in der Nordsee gelohnt hat, wir in der Ostsee irgendwann die Schoten öffnen und losrauschen können. Diese Hoffnung wird allerdings von Navigator Ralf gedämpft: „Unterschätzt nicht, dass wir noch in eine dicke Flaute hinter Langeland kommen werden.“ Nachdem wir die beiden Ruder Ralf und Martin übergeben haben und diese kurze Zeit später die imposante Große-Belt-Brücke durchfahren, kündigt sie sich schon an. Der Wind nimmt stetig ab. „Hoffentlich parken wir nicht komplett“, sage ich noch zu Thomas. Und als hätte ich es geahnt, wecken uns knapp sechs Stunden später Dirk und Jochen. Dirk meint stolz: „Im Vergleich zu den anderen haben wir in der Nacht richtig aufgeholt.“ Jochen ergänzt: „Wir haben jedenfalls das Beste rausgeholt.“
Mit der Aussage, dass allerdings auch einige direkt unter Land gefahren sind und wegen des Gegenstroms ankern mussten, relativiert der Co-Skipper die Aufholjagd allerdings, und in der Tat: Als wir die Köpfe aus der Luke strecken, ist keinerlei Luftbewegung zu spüren. Das Boot klebt im Wasser.
In der Nacht hatte es kurzzeitig für uns ein privates Windfeld gegeben, mit dem wir den anderen Schiffen zumindest noch mal so nah kommen konnten, dass wir ihre Silhouetten am Horizont erahnen können. Zeitweise sind wir allerdings auch rückwärts getrieben. Immer wieder kommt Hoffnung auf, dass sich der Wind endlich durchsetzen könnte, dennoch vergehen auch in unserer Wache wiederum knapp zweieinhalb Stunden, bis die leichte Brise tatsächlich bleibt. Mit etwa drei Knoten Fahrt im Schiff übergeben wir schließlich an Ralf und Martin.
Sie nehmen weiter Kurs auf das Ziel vor dem Olympiahafen von Schilksee. Die letzten Stunden setzen wir sogar noch den über 200 Quadratmeter großen Gennaker, der uns stetig schneller Richtung Ziellinie befördert. Wir kommen dem Ziel unserer Reise nun mit acht Knoten Bootsgeschwindigkeit trotz 0,9 Knoten Gegenstrom bei etwa zwölf Knoten Wind immer näher. Kurz vor dem Ziel planen wir, den Gennaker zu bergen und unter Genua die Ziellinie zu queren. „Für das letzte Manöver unserer Reise hätte ich gerne, dass alles reibungslos läuft“, legt Thomas die Latte schon ziemlich hoch. Auf dem Vorschiff bergen wir den Gennaker; sobald der Bergeschlauch unten ist, öffnet Jochen die Reffleine der Genua. Martin rollt die Genua aus, und so fahren wir um 20.18 Uhr über die Ziellinie zwischen der Steinmole und der gelben Pantaenius-Tonne. Die Freude an Bord ist riesig. Dirk ruft: „Wir sind durch!“
Die Favoriten wurden ihrer Rolle gerecht: Henri de Bokays Neigekielyacht vom Typ Elliott 52 SS „Rafale“ hatte die Zielline von „Pantaenius Rund Skagen 2024“ als erste durchquert. Mit einer Zeit von 47 Stunden, 44 Minuten und einer Sekunde verpasste sie den seit 2000 bestehenden Rekord der „Uca“ für das schnellste Einrumpfboot jedoch um vier Stunden. Die Crew um Steuermann Malte Päsler und Navigator Robin Zinkmann hatte alles getan, den Rekord einzustellen, aber auch ihr furioser Endspurt konnte die in der Ansteuerung von Skagen verlorene Zeit nicht mehr rausholen.
Dass sie in der zweiten Hälfte des Rennens schnell sein würden, hatte Päsler schon vor dem Start prognostiziert: „Vor Skagen werden wir wahrscheinlich ein bisschen kreuzen müssen, wenn wir aber dann rum sind, haben wir richtig Bock darauf, bei ordentlich Ostwind die großen Segel auszupacken und die Ostsee runterzuballern.“
Den zweiten Platz in den Line Honours sicherte sich die Tripp 75 „Calypso“ von Eigner und Steuermann Dr. Gerhard Clausen. In der Crew dabei der Kieler Andreas Baden, der 2023 gemeinsam mit Fabrice Amedeo auf dessen Imoca „Nexans – Art & Fenêtres“ die Transat Jacques Vabre gesegelt hatte. Sie kamen knapp sieben Stunden nach der „Rafale“ ins Ziel. Als drittes Schiff erreichte die „Elida“ von Daniel Baum das Ziel nach einer gesegelten Zeit von 58 Stunden.
Die „Pantaenius Rund Skagen“-Regatta 2024 bildete den zweiten Teil der Internationalen Deutschen Meisterschaft (IDM) Seesegeln 2024. Der Deutsche Segler-Verband hatte diese an die Regattagemeinschaft Nordseewoche vergeben. In der Wertung wurde der „Capitell-Cup Rund Helgoland“ einfach und das „Pantaenius Rund Skagen 2024“-Rennen doppelt gewertet. Die IDM in der ORC-A-Gruppe entschied die „Rafale“ für sich, Zweiter wurde die Humphreys 39 „Ginkgo“ von Dirk Clasen vor der „Calypso“. In ORC B gewann die „Hinden“ vom ORC-Doublehand-Weltmeister von 2022, Jonas Hallberg. Hinter seiner JPK10.30 landete auf dem zweiten Platz das Team des betagten Eintonners „Oromocto“ um Skipper Kai Greten. Unsere Crew war, obwohl sie im Rennen um die IDM keine Rolle spielte, mit sich zufrieden. Und sie hat gleich weitere ambitionierte Ziele ins Auge gefasst. So könnte sich Thomas zum Beispiel eine Atlantiküberquerung oder auch die Teilnahme am Fastnet Race 2025 vorstellen.
Schon 1932 wurde die „Rund Skagen“-Regatta, bei der die Nordspitze des dänischen Festlandes gerundet wird, zum ersten Mal ausgesegelt. Der erste Start nach dem Zweiten Weltkrieg fand 1950 ab Bremerhaven statt, seit 1953 wird wieder von Helgoland nach Kiel gesegelt. Die zu segelnde Strecke ist in etwa 510 Seemeilen lang und führt von der Nord- in die Ostsee durch den Großen Belt nach Kiel. Der aktuelle Rekord für Einrumpfboote von Rund Skagen im Rahmen der Nordseewoche stammt aus dem Jahr 2000. Damals gewann das Bruce-Farr-Design Baltic 67 „Uca“ des ehemaligen Arbeitgeberpräsidenten Dr. Klaus Murmann mit Steuermann Walter Meier-Kothe (siehe Porträt ab Seite 52). Ihr sensationeller Rekord mit einer gesegelten Zeit von 43 Stunden und 46 Minuten konnte auch 2024 nicht eingestellt werden. Bereits seit 1994 ist Pantaenius Hauptsponsor von Rund Skagen, stiftete damals auch den Wanderpreis, die Bronzeguss-Skulptur eines Wikingerschiffs des Bildgießers und Seglers Hermann Noack aus Berlin. Die Inhaber von Pantaenius, Familie Baum, nehmen selbst regelmäßig an der Langstreckenregatta mit der Swan 48 „Elan“ teil. In diesem Jahr war Daniel Baum, einer der Geschäftsführer, wieder mit seiner noch jungen „Elida“ am Start. Mit ihr schaffte er im vergangenen Jahr beim neuen Format des Helgoland Offshore Triangle das „First Ship Home“. In diesem Jahr reichte es zum zweiten Platz im Skagen-Rennen nach berechneter Zeit über alle Gruppen.