Jan Zier
· 19.07.2022
Die Rheinwoche ist die älteste, größte und längste Flussregatta Europas. Ihr 100. Geburtstag ist zwar schon etwas her, das Lesen der Reportage lohnt sich aber trotzdem. Denn wir sind ein Stück mitgesegelt
Pfingstsamstag, die Sonne scheint, es weht ein moderater Segelwind. Bestes Pulli-und-kurze-Hose-Wetter. Nur ab und zu krängt die "Li" so sehr, dass ihr Lee-Bug Wasser übernimmt und die Lenzpumpe gurgelt. Das L-Boot, ein offenes Drei-Mann-Kielboot, wurde 1949 bei Abeking & Rasmussen gebaut: ein klassisch elegantes Regattaschiff, zugleich ein Nachmittagsboot, wie das früher hieß, mit lang gestrecktem Rumpf, langen Überhängen, niedrigem Freibord und hohem Rigg. Damit vereint die "Li" perfekt, wofür die Rheinwoche insgesamt steht: Spaß und Spannung, Fahrtensegeln und Regatta-Action.
Unbeschwert rauschen wir dahin, Kilometer um Kilometer, vom Eisenbahnhafen in Duisburg bis nach Wesel, zweieinhalb Stunden lang. Vorbei an den sandigen, baumbestandenen Ufern des Niederrheins, vorbei an Städten, Kühltürmen und Kränen, vorbei an zahllosen Industriekulissen.
Es sind nicht zuletzt diese landschaftlichen Gegensätze, die einen Gutteil des Reizes des Rheinsegelns ausmachen. Auch wenn "Li"-Vorschoter Kim Mikkelsen beteuert, dass er hier kein Schiff liegen haben wolle. "Aber die Rheinwoche, die macht schon echt Spaß!", sagt er.
Die Rheinwoche, das ist die älteste, größte und längste Flussregatta, mindestens in Europa. In diesem Jahr wurde sie hundert Jahre alt. Die Strecke wechselt jährlich, 1922 etwa ging es von Andernach bis Emmerich. Das sind mehr als zweihundert Kilometer; 52 Segelboote waren seinerzeit dabei. Um die Wette gesegelt wird auf dem Fluss sogar schon seit Ende des vorvergangenen Jahrhunderts: Der Kölner Yachtclub etwa entstand zu Kaisers Geburtstag im Jahr 1900. Damals beherrschten noch Schlepper mit qualmenden Dampfmaschinen den Strom, und selbst größere Segelyachten besaßen keinen Hilfsmotor. Wo segeln nicht mehr reichte, musste gepaddelt werden.
Das ist bis heute so, nur dass inzwischen ein Motorboot zur Stelle ist, wenn einem mal der Wind ausgeht. Zwischenfälle wie jener aus den zwanziger Jahren, der in einem alten Programm nachzulesen ist, sind allerdings Geschichte: "Der Start geriet wegen Vorbeitreibens von Fässern mit Moselwein aus einem gesunkenen Schleppkahn in Unordnung, da alle Segler mit dem Auffischen derselben beschäftigt waren." Zum Sieger gekürt wurde kurzerhand das Boot mit dem meisten Wein an Bord, heißt es in der Chronik.
Seit jenen Tagen ist der Rhein schmaler, die Strömung stärker geworden, Dampfer sind verschwunden, die meisten Fähren wurden durch Brücken ersetzt, und zahlreiche Buchten und Altarme sind verlandet. Heute prägen haushoch beladene Containerschiffe, Tanker und Flusskreuzfahrer das Bild, dazu Stückgutfrachter und Schleppverbände, die 240 Meter lang werden. Sie alle haben Vorfahrt. Und sie alle haben einen toten Winkel, der bis zu 500 Meter lang sein kann. Da vergehen schon mal zwei Minuten, ehe man als Segler von der Brücke aus gesehen wird.
Den Berufsschiffen richtig auszuweichen ist nicht nur eine Frage der Sicherheit oder von Verkehrsregeln. Es hat auch taktische Vorteile. So sollte man zum einen nicht in ihren Windschatten geraten. Vor allem aber lässt sich das Schraubenwasser derer, die gegen die Strömung fahren, zum Wenden nutzen oder für einen Extraschub. Das Schraubenwasser derer, die zu Tal fahren, sollte man dagegen meiden. Hier droht Gefahr infolge der Sogwirkung.
Gesegelt wird bei der Rheinwoche immer stromabwärts. Der Fluss schiebt dann die Schiffe zusätzlich mit einer Geschwindigkeit von vier bis acht Stundenkilometern Richtung Ziel. Deswegen ist das Segeln sogar bei Flaute möglich – die alten Rheinsegler nennen diese Kunst "stiwweln". Dabei geht es darum, die Stromgeschwindigkeit in Fahrt und dann auch in Wind umzusetzen. Weil kein Regattadreieck und kein Up-and-down-Kurs gesegelt wird, sondern einfach ein Stück flussabwärts, ist schon der Start ein ganz anderer als sonst bei Wettfahrten. Als es in Düsseldorf hinaus in Richtung Duisburg geht, verharren viele Segler lange in dem schmalen, flachen Hafenbecken, drängeln sich dicht an dicht dort aneinander, wo noch kaum Strömung herrscht. Keinesfalls will man zu früh zu nah an der Startlinie treiben. Dann ist man unversehens darüber hinweg. Als Faustregel gilt: Fünf Minuten vor dem Start kann man auf dem Rhein ruhig noch 500 Meter vor der Startlinie sein.
Kleinkreuzer und Jollen beherrschen das Teilnehmerfeld, hochgezüchtete Regattaracer sieht man kaum, schon Foliensegel sind selten. Dafür kommen von jeher viele Familien, Eltern mit Kindern und Segler, die nicht mit dem Messer zwischen den Zähnen um jeden Meter kämpfen. Die Rheinwoche ist eher eine gemeinsame Ausfahrt denn ein harter Wettkampf.
Gestartet wird in mehreren Gruppen, die schnellsten zuerst und zuletzt jene, deren Yardstick über 110 liegt. Mitfahren darf alles, was einen Yardstick von maximal 118 hat – sonst zieht sich das Feld zu sehr auseinander, und es sollen ja zwei Wettfahrten an jedem Tag ausgetragen werden. Auch so liegen zwischen den Ersten und den Letzten im Feld schnell mal zehn Flusskilometer.
In diesem Jahr waren insgesamt 68 Boote gemeldet, darunter sieben Shark 24 sowie jeweils fünf H-Boote, Sailhorses und Dyas sowie drei J 22. Ein Boot, die "Madison", eine Monas, kam gar mit vierköpfiger Crew aus Basel den gesamten Rhein herab angereist. Dabei ist das offene Kielboot eigentlich ein Einhandschiff mit Selbstwendefock. Nach der Rheinwoche fuhr die "Madison" dann noch bis nach Amsterdam.
Peter Jonas indes musste schon auf der ersten Etappe der Rheinwoche aufgeben, zwischen Köln und Düsseldorf. Er war als Vorschoter einer RS Vision ins Rennen gegangen; sie war in diesem Jahr das kleinste Schiff der Regatta. Doch die Jolle kenterte, der Mast grub sich in den Kies ein, und die DLRG musste ihn und seinen Skipper retten, auch er schon etwas älter. Sie haben dann aufgegeben.
"Ich gehe kein Risiko mehr ein", sagt der 67-Jährige, der nun auf dem Oberdeck der "Eureka" steht, die den Wettbewerb stets begleitet – als schwimmendes Regattabüro, als Schlaf- und Essensort, aber auch als Partyschiff. "Ich ziehe meinen Hut vor diesen beiden Herren", wird Organisationschef Bernd Deertz später bei der Siegerehrung sagen – und dass er persönlich "dieses Boot für die Rheinwoche nicht gewählt hätte". Andererseits: Es sind auch schon klassische Laser die Rheinwoche mitgefahren.
49 Boote wurden in diesem Jahr im Wettbewerb ums "Blaue Band" gewertet. Damit konnte die Rheinwoche zwar nicht an den Erfolg früherer Zeiten anknüpfen, in denen bis zu 140 Crews kamen. Doch in den letzten beiden Jahren fiel der ehrenamtlich organisierte Event wegen der Corona-Pandemie ganz aus. Davor, 2019, herrschten sechs Beaufort vor, in Böen bis neun! Gestartet wurde "auf eigene Gefahr", erzählt Helge von der Linden. Als Mitorganisator hatte er nun auf hundert Starter gehofft, das Ganze muss sich ja auch finanziell tragen. Aber kleinere Felder haben auch Vorteile, sagen die Segler: Überall ist es stressfreier – in den Häfen, beim Kranen, beim Mittagessen und beim Übernachten auf der "Eureka".
Dass das Fahrgastschiff inzwischen die Regattasegler begleitet, ist ein Komfortgewinn. Früher übernachteten die Crews an Land in Turnhallen und Scheunen, wenn das eigene Boot zu klein war. Verpflegt wurden sie aus Gulaschkanonen. Nun befindet sich der Schlafsaal im ersten Deck der "Eureka", wo Luftmatratzen und Isomatten eng aneinanderliegen. Einziges Manko: Duschen gibt es keine an Bord. Dafür jeden Tag ein Frühstück und ein Mittagessen zwischen zwei Wettfahrten.
Oben auf der Brücke führt Edwin Bosma das Kommando, der früher Tanker gefahren ist. Er ist eine Mischung aus Kapitän und Conférencier und sorgt für beste Stimmung. Mit dem Tanker immer den Rhein rauf und runter zu fahren, das sei ein bisschen langweilig gewesen. "Jetzt sind wir da, wo Party ist!" Von seinen Berufsschifferkollegen sagt er: "Die meisten denken, Segler gehören nicht auf den Rhein." Er denkt da anders, die Rheinwoche sei für ihn "wie eine Familie".
In dieser Familie sind die Aufgaben verteilt. Der eine steuert das Begleitschiff, andere kümmern sich ums Regattageschehen, und wieder andere sorgen für einen reibungslosen Ablauf an Land. Katja Polzenberg, die Vorsitzende der Regattagemeinschaft, die all das hier organisiert, kutschiert beispielsweise mit ihrem Auto stundenlang Crews von A nach B, damit am Ende sämtliche Trailer, Autos und Segler am selben Ort vereint sind.
Die "Li" etwa, das älteste Schiff im Feld, liegt normalerweise am Baldeneysee in Essen. Gleich zu Beginn der Rheinwoche hat sie etwas gelitten, ein Pütting – das Holz war schon etwas morsch – ist ausgerissen. Der Mast ist nun nicht mehr ganz so verstagt, wie er soll. "Die Genua muss daher drinbleiben, der Spi darf nur raus, wenn es nicht zu doll weht", sagt Skipper Marcel Teriete. Er ist Bootsbauer aus Bremerhaven und Bruder des Eigners Jürgen Teriete; zusammen haben sie das Schiff schon mal total saniert. "'Li' ist eigenwillig, stur und wunderschön", sagt Marcel Teriete und nennt sie "eine Diva". Am ersten Tag lief sie nahe einer Buhne auf, der Eigner musste in Unterwäsche in den Fluss steigen, um das Schiff wieder freizubekommen.
In Wesel tritt abends ein Sänger auf, der neben dem Bierstand Lieder von Hans Albers singt, danach übernimmt eine Coverband, die Hits vergangener Tage imitiert. Ein paar Leute tanzen dazu, es ist ein bisschen wie auf einem Stadtfest. Als die Sonne untergeht, taucht sie den Himmel in schillerndes rotorangerosa Licht. Helge von der Linden, im Hauptberuf Fachmann für Farben, Lacke und Harze, im Nebenberuf Vorsitzender des Yacht-Club Wesel, wird dann immer noch unterwegs sein. Er hält Nachtwache auf der "Eureka". Tagsüber muss er Technikfragen beantworten, Seglern helfen, die irgendwelches Werkzeug brauchen, und Bürgermeistern am Wegesrand, die ein Grußwort halten wollen, die Hände schütteln. Außerdem koordiniert er DLRG, Wasserschutzpolizei und Regattaleitung. Zum Segeln ist da keine Zeit, obwohl von der Linden schon oft die Rheinwoche mitgefahren ist. Dafür liegt seine Blackbird "Fritz" nun vorn im Rennen, eine schlanke, sportliche Jolle mit Hubkiel, die seine Firma mal auf einer Messe gebaut hat.
Am nächsten Vormittag geht es von Wesel aus 20 Kilometer weiter nach Rees. Am Nachmittag drohen Unwetter. Eine Wettfahrt wird gestrichen, dafür muss am letzten Tag länger gesegelt werden: An Emmerich vorbei nach Arnheim, über 40 Kilometer sind das.
Für die Etappe nach Rees heuern wir auf der Varianta VA 18 "St. George" an. Skipper Jochen Kiel, ein Ingenieur aus der Automobilindustrie, ist seit Mitte der Neunziger auf der Rheinwoche dabei, mal mit einer Dyas, einem Kielzugvogel oder einer Shark 24. Am Ufer muhen Kühe, während wir die Etappe binnen eindreiviertel Stunden absolvieren. Der Rhein ist seit Verlassen der Duisburger Industriekulisse nun sehr grün zu beiden Seiten. In den Kurven muss man vom kürzesten Weg abweichen, den Weg in die Strommitte suchen, also länger segeln, um schneller voranzukommen. Am Ende der Regatta wird die "St. George" auf Platz 34 liegen. "Damit sind wir zufrieden", sagt Jochen Kiel. "Für uns zählt der Spaß an dem Event, die tolle Strecke und das Treffen mit den vielen netten Leuten."
Einen ungefährdeten Sieg fahren Skipperin Katrin und Vorschoter Jens Priewe auf ihrer H-Jolle "Tekitisi" heraus: Knapp 15 Stunden brauchen sie für die 185 Regattakilometer – und dürfen sich über das "Blaue Band" freuen. Berechnet gewinnt die Dreier-Crew der J 22 "7Sitzer".
Gleichwohl gibt es in Arnheim noch das eine und andere Sekundenfinish an der Ziellinie. "Das muss man sich mal reinziehen", sagt Helge von der Linden. Und grinst zufrieden.