Am Ende einer ruhigen, kleinen Sackgasse im Londoner Stadtteil St. James’s residiert der Royal Ocean Racing Club (RORC) in einem alten, dreistöckigen Backsteingebäude. Es stammt aus dem 17. Jahrhundert und war zuletzt das Stadtpalais von Edgar Vincent, 1st Viscount d’Abernon, der von 1920 bis 1926 als britischer Botschafter nach Berlin entsandt war. Auch die Nachbarn am St. James’s Place können sich sehen lassen: Winston Churchill wohnte in Hausnummer 29, Sir Francis Chichester in Nummer 9. Und Nummer 27 ist das Palais der Familie von Lady Diana Spencer. Nur ein paar Meter vom Eingang des RORC entfernt führt Queen’s Passage, ein schmaler Fußweg, zum nahen Buckingham Palace.
Einen Segelverein würde man so fern der See eher nicht erwarten. Schon gar nicht mitten in London unter einer derart geschichtsträchtigen Adresse. Der RORC, der in diesem Jahr sein hundertjähriges Bestehen feiert, ist allerdings auch kein normaler Segelclub. Er ist ein wahrhaft königlicher Verein mit 4.000 Mitgliedern. Sein Schirmherr ist King Charles III., wie zuvor dessen Mutter Queen Elizabeth II. und davor deren Vater King George V. es waren.
Trotzdem ist der RORC kein Domizil alter weißer reicher Männer, die bei einem Pimm’s No. 1 Cup über das verlorene Empire räsonieren. Tatsächlich haben wir es mit einem Verein zu tun, der ganz und gar auf der Höhe der Zeit agiert, der weltweit die Fäden im Hochsee-Regattasport zieht und der seine Entstehung ausschließlich sportlichen Aktivitäten verdankt.
Begonnen hat alles in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg. Die Ära der großen Rennschoner des Adels, die vor dem Seebad Cowes auf der Isle of Wight gegeneinander antraten, war vorbei. Nun saß das Bürgertum am Ruder, und vor Cowes steuerte man vor allem auf halboffenen, kaum hochseetüchtigen Rennklassen Kurse auf dem geschützten Küstenrevier.
Irgendwie segelte dabei die Schmach des 1856 genau hier verlorenen und seither nie zurückeroberten America’s Cup stets mit. 1923 waren die Amerikaner den Engländern erneut ein Stück voraus, als sie eine Hochseeregatta über 635 Seemeilen von Newport/Rhode Island an der US Ostküste zu den britischen Bermuda Inseln ausschrieben. Segeln im Bermuda Dreieck? Das galt als höchst riskant. Und doch, das Bermuda Race, das bis heute alle zwei Jahre ausgesegelt wird, entwickelte sich zu einem Hochseeklassiker.
Da wollten die Briten nicht nachstehen. Eine Gruppe von zunächst sieben englischen Amateurseglern organisierte im August 1925 eine Wettfahrt über 600 Seemeilen. Der Startschuss fiel vor der Royal Yacht Squadron in Cowes, als Wendemarke hatte man Fastnet Rock südlich von Irland auserkoren, und das Ziel befand sich vor dem Hafen von Plymouth. Der Kurs führte mithin durch ein Seegebiet, gefürchteter als das Bermuda Dreieck. Unterm Strich hatten hier an der englischen Südküste mehr Seeleute ihr Leben verloren als irgendwo anders auf der Welt. Und zwar nicht nur arme Matrosen auf Kriegs oder Handelsschiffen, sondern auch eine Reihe feiner Yachtsegler.
Weil es 1925 kaum geeignete Regattayachten für ein Abenteuer wie das Fastnet Race gab, bestand das Feld der sieben Boote vor allem aus ehemaligen Gebrauchsseglern. Die am Ende siegreiche „Jolie Brise“, ein 16 Meter langer französischer Lotsenkutter, erreichte das Ziel nach sechs Tagen, zwei Stunden und 45 Minuten. Sekunden zählte man noch nicht. Zum zugegeben nicht ganz fairen Vergleich: Der Rekord über den inzwischen etwas längeren Kurs von 690 Seemeilen zum heutigen Ziel in Cherbourg hält der französische, von Profis gesegelte 33 Meter lange Hightech Katamaran „Lazartigue“ mit einem Tag, acht Stunden, 38 Minuten und 27 Sekunden. „Jolie Brise“ immerhin gewann das Fastnet Race insgesamt drei Mal, noch 2013 war sie dabei, und sie segelt immer noch.
Am Tag der ersten Siegerehrung des Fastnet Race, also Ende August vor hundert Jahren, wurde in Plymouth der „Ocean Racing Club“ aus der Taufe gehoben. Als Stander wählten die Gründer ein Motiv mit weißem Seepferdchen in einem Kranz aus geschlagenem Tauwerk auf dunkelblauem Grund. Wer genau hinschaut, wird bemerken, dass im Emblem der Schwanz des Seepferdchens nach hinten statt nach vorn, also verkehrtherum gewickelt ist. Einerlei. Dem Erfolg des Fastnet Race konnte das nichts anhaben.
Im Gegenteil, es lockte sogar Yachtcrews aus den USA an, die noch dazu meist die Oberhand behielten. Dies wiederum führte zu den unvermeidlichen Disputen über die unterschiedlichen Handicap Regeln. Hierin fand der RORC ein wichtiges Betätigungsfeld – bis auf den heutigen Tag.
Englands Monarch George V., seines Zeichens selbst ein begeisterter Regattasegler, zeigte sich dem Ocean Racing Club gewogen. Im November 1931 erreichte den Vorstand ein Brief aus dem Buckingham Palast, in dem zu lesen stand: „His Majesty the King had been pleased to command that this club should henceforth been known as The Royal Ocean Racing Club.”
Auf diese Weise erhielt der schiefgewickelte Hippocampus erectus im Club Emblem seine Königskrone. Als der Monarch bald darauf starb, wurde seinem Wunsch entsprechend die königliche Yacht „Britannia“ nahe der Isle of Wight versenkt – ein Grab nach altem Wikingerbrauch: Die Mutter des Königs war deutsch dänischen Geblüts. Im Gegensatz zu fast allen britischen Clubs waren Frauen als Mitglieder von Beginn an mit gleichen Rechten zugelassen. Einzig auf der Clubyacht „Griffin“ durften sie nicht segeln. Diese Barriere fiel erst 1973.
Zwischen den Weltkriegen rief der RORC viele Hochseeregatten ins Leben, insbesondere in die direkten Nachbarländer nach Frankreich, Holland – und Deutschland. Zu den Höhepunkten der Saison zählten die Wettfahrten nach Helgoland. Die Deutschen beteiligten sich daher auch – als Lehrlinge – am Fastnet Race. Bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges entstanden auf diese Weise viele deutsch-englische Segelfreundschaften, die über 1945 hinaus Bestand hatten.
Mit der Entwicklung einer eigenen RORC-Handicap-Regel nahm der Club großen Einfluss auf die Entwicklung des Hochseesports. Es entstanden in der Folge eine große Zahl wegweisender Yachten, die in die RORC-Formel hineinkonstruiert waren. Dazu gehörte die 1936 bei Camper & Nicholson gebaute 19-Meter-Yawl „Bloodhound“. 1939 und 1949 gewann sie das Fastnet Race. 1962 erwarb Prinz Philipp das Schiff für das britische Königshaus und kreuzte mit ihm sogar bei der Kieler Woche auf.
1937 gewann der damals innovative RORC-Riss „Ortac“ überlegen die Regatta nach Helgoland. Der in seiner Zeit kaum besiegbare 15-Meter-Racer war der erste mit einem fest installierten Bugkorb. 1953 kaufte der Hamburgische Verein Seefahrt (HVS) die „Ortac“ für die Ausbildung des Nachwuchses.
1957 schließlich schuf der RORC die Wettfahrtwoche um den Admiral’s Cup, mit abschließendem Fastnet Race. Teams aus bis zu 15 Nationen gingen mit je drei Booten im Rahmen der Cowes-Woche an den Start. An Bord die besten Segler der Welt. Schon bald galt der Admiral’s Cup, nach dem America’s Cup, als Krone des Segelsports.
Und wieder war es eine neue Handicap-Formel, diesmal die International Offshore Rule (IOR), die dazu führte, dass viele neue Yachten gezeichnet und gebaut wurden. Mit der IOR begann in Deutschland das goldene Vierteljahrhundert des Segelsports. Erstmals 1973 traten die deutschen Lehrlinge aus dem Schatten der angelsächsischen Meister heraus. Mit dem überlegenen Sieg der Yachten „Saudade“, „Rubin“ und „Carina“ erstaunten sie die Konkurrenz und konnten den Pokal 1983, 1985 und 1993 noch dreimal gewinnen.
Danach verebbte das Interesse am Admiral’s Cup, nicht zuletzt als Folge missglückter neuer Formel-Versuche. Zudem: Die Infrastruktur des kleinen Seebades Cowes war längst völlig überfordert. Auch vermochte das oft stürmische englische Tidenrevier gegen die Verlockungen neuer Regattareviere im milden Mittelmeer nicht standzuhalten. Nicht einmal die königliche Yacht HMS „Britannia“ ließ sich noch blicken. Der Admiral’s Cup verschwand, das Fastnet Race aber blieb als Fels in der Brandung.
Dabei sah es danach zwischenzeitlich gar nicht aus. Im Sommer 1979 war mit 303 Yachten die bis dato größte Flotte zum Fastnet-Felsen aufgebrochen: geradewegs in eine Katastrophe. Ein nicht rechtzeitig erkannter Orkan zertrümmerte einen großen Teil der Yachten, 15 Segler kamen ums Leben. Es war die dunkelste Stunde nicht nur in der Geschichte des RORC, sondern der des gesamten Hochseesports. RORC-Wettfahrtleiter Alan Green, auf den sich die gesamte Weltpresse stürzte, bewahrte indes einen kühlen Kopf. Die Ergebnisse der Unfalluntersuchung durch den RORC führten zu einer Fülle neuer Sicherheitsvorschriften auf See, die seither weltweit Standard sind.
Vor allem aber: Der Popularität des Fastnet Race schadete das Unglück kaum. Für das Jubiläumsjahr 2025 erwartet der RORC weit über 400 Yachten auf dem Kurs der „Todesregatta“. Darüber hinaus konnte man 2015 das Vereinsheim des Royal Corinthian Yacht Club in Cowes erwerben und ausbauen. Seither verfügt man am Solent über ein zweites Domizil – wieder in bester Lage, diesmal allerdings mit Wasserblick, 14 Gästezimmern und nur einen Steinwurf entfernt von der Burg der Royal Yacht Squadron, wo traditionell die Kanonen zum Regattastart abgefeuert werden.
Gegen großen Widerstand gelang es in den letzten Jahren, die vom RORC entwickelte und verwaltete International Rule (IRC) als eine gut funktionierende und bewährte Handicap-Regel weltweit zu etablieren. Und außerdem mit Uhrenhersteller Rolex einen Premium-Sponsor ins Boot zu holen. Das Fastnet Race heißt heute daher Rolex Fastnet, und die Sieger erhalten nicht nur einen Pokal, sondern auch eine edle Armbanduhr.
In der Club-Hierarchie, dem königlichen Schirmherrn direkt untergeordnet, stehen ein Commodore und ein Admiral gleichrangig nebeneinander. Seit 2024 ist der „Commodore of the RORC“ eine Frau: Dr. Deborah Fish O.B.E. arbeitete als Wissenschaftlerin im englischen Verteidigungsministerium. Zupacken kann sie; elf Mal segelte sie rund Fastnet, zuletzt schaffte sie Platz zwei in der Zweihandklasse.
Seit diesem Januar ist auch der „Admiral of the RORC“ weiblich: Janet Grosvenor begann 1969 im Clubsekretariat, brachte es bis zum leitenden Race Officer und ist längst eine legendäre Figur nicht nur in der britischen Segelszene. Club-Geschäftsführer am St. James’s Place ist mit Eddy Warden-Owen wiederum einer der erfolgreichsten britischen Profi-Segler.
Die drei begleiten den RORC durch das Jubiläums-Jahr. Da gibt es eine Menge zu tun. Begonnen hat es im Januar mit der RORC-Transatlantikregatta westwärts von Lanzarote nach Grenada. Mit der „Haspa-Hamburg“ war auch eine deutsche Yacht dabei. Im Februar folgen die RORC Caribbean 600 in Antigua, ein Winter-Klassiker. Am 18. Juni startet eine weitere Transatlantikregatta unter Beteiligung des RORC, dann ostwärts von Newport/Rhode Island nach Cowes, 3.000 Seemeilen.
Für die Cowes Week im Juli laufen die Vorbereitungen zu einer Neuauflage des Admiral’s Cup, diesmal mit Zwei-Boot-Teams, die jeweils einen Club vertreten. Der RORC rechnet mit der Teilnahme von Vereinen aus 16 Nationen. Für die abschließende Fastnet-Regatta geht man von deutlich mehr als 400 Startern aus.
Gefeiert wird auch, nicht nur mit zwei sommerlichen Gala-Dinners in Cowes, sondern, über das ganze Jahr verteilt, mit befreundeten Yachtclubs rund um die Welt. Im September soll der Norddeutsche Regatta Verein in Hamburg Gastgeber sein.
Obwohl das Herz des RORC weiterhin im alten Clubhaus am St. James’s Place schlägt, eignet es sich nicht für größere Feierlichkeiten. Es ist zwar alles da, was man von einem britischen Ladies and Gentlemen Club erwartet : knarzende Dielen, ein Clubraum – der „Fastnet Room“ – sowie in Öl porträtierte einstige RORC-Granden, die von den Wänden herabblicken. Im Esszimmer gibt es am Tisch vorm Kamin aber gerade mal zehn Sitzplätze.
Soziales Zentrum des Hauses ist die Bar im ersten Stock. Hier liest man in bequemen Ohrensesseln die „Times“ oder das Segelmagazin „Seahorse“, darf sich einen feinen Earl Grey aufbrühen und pünktlich zwölf Uhr mittags den ersten Gin Tonic einnehmen.
Nicht bequem, aber stilvoll sind die Barhocker aus Nussbaumholz. Es sind Restbestände aus dem Mobiliar der Dreadnought HMS „Iron Duke“. Das britische Flaggschiff versenkte in der Schlacht im Skagerrak 1916 den deutschen Kreuzer SMS „Wiesbaden“ – und mit ihm den Dichter Gorch Fock. 1939 dann setzten deutsche Bomben den eisernen Herzog im Hafen von Scapa Flow auf Grund. Alte Segelgeschichten sind oft auch alte Kriegsgeschichten und bis heute beliebter Gesprächsstoff in englischen Bars.
Die Heimat des RORC ist ein gastlicher Ort. Clubmitglieder und Freunde können dort sogar nächtigen, es gibt einen Hoteltrakt. Die Ausstattung der Suiten ist in den Nationalfarben gehalten – damit man nicht vergisst, dass ganz in der Nähe der König schlummert. Zum Preis von gut 150 Pfund pro Nacht gilt die Unterkunft in Londons City sogar als Schnäppchen.
Trotz vieler Herausforderungen und mancherlei Krisen, der Royal Ocean Racing Club ist eine Institution nicht nur für den englischen Hochseesegelsport. Daran wird sich, so bleibt zu hoffen, auch in den nächsten hundert Jahren wenig ändern.