Er wirkte noch etwas müde, fast schlaftrunken. Aber in seinem Bericht von Bord war Boris Herrmann anzumerken, dass er guter Dinge ist. Schnellster über 24 Stunden, das hebt die Moral - insbesondere, weil er den vor ihm liegenden Booten teils mehr als 150 Seemeilen abnehmen und sich auch aus der Flotille um Justine Mettraux, Sam Davies und Clarisse Crémer lösen konnte.
An der Platzierung des Hamburgers hat sich zwar nichts geändert. Er segelt nach wie vor auf Platz zehn. Doch erstmals ist der direkt vor ihm liegende Yannick Bestaven auf “Maitre Coq” in Reichweite - nur rund 80 Seemeilen östlich von Boris. Und der, wir erinnern uns, hat vor vier Jahren die Vendée Globe gewonnen.
Es fühlt sich so an, als gäbe es Bewegung auf dem Schachbrett”
Das schrieb Herrmann um 15 Uhr mitteleuropäischer Zeit in seiner Friends&Family-Chatgruppe per WhatsApp. Da war er im Südmeer von tiefer Dunkelheit umgeben. Später erzählte er amüsiert in seinem täglichen Video-Report, dass Sam Goodchild ihm eine Nachricht geschickt habe: „Sieht so aus, als müsse ich auf Dich warten. Also beeil Dich!“ Der an Position sieben segelnde Brite wurde von einer sich ausbreitenden Hochdruck-Rinne eingebremst, während Boris noch frischen Wind hatte.
“Über Satelliten-AIS kann ich jetzt fünf Boote um mich herum sehen,” sagte der Skipper der “Malizia-Seaexplorer. Nur knapp 100 Seemeilen bis zum nächsten. Gut für die Moral - für meine”, präzisierte er, “nicht für deren.” Denn alle wissen, dass er das beste Boot fürs raue Südmeer hat.
Boris’ Abstand auf den nach wie vor Führenden, Charlie Dalin, ist zwar noch immer gewaltig, lag zuletzt aber nur bei etwas über 1.000 Seemeilen, nicht mehr jenseits von 1.300 wie vor ein paar Tagen.
Kurz danach rollte er seine J Zero ein. Im Lichtkegel der Decksleuchte ging er aufs Vorschiff, ließ das Reachingsegel am Fall herab und packte es weg. Denn der Wind wird nach rechts drehen und von morgen Früh an immer weiter zunehmen. Von Montag an, erwartet Boris, werde er nur noch mit Sturmfock und drittem Reff im Groß unterwegs sein, eine Konfiguration, die er bisher noch nie auf einer Solo-Regatta gefahren ist. “We will get hammered”, erklärte er -auf Deutsch:
Wir werden es knüppeldicke kriegen”
Von Tasmanien kommend wird ihn der Pazifik mit einem giftigen Sturmtief und Böen jenseits von 50 Knoten aus Nordnordost begrüßen. Es ist nicht das einzige; zwei weitere werden die Nachzügler im Indischen Ozean beschäftigen. Wohl auch deshalb haben heute alle Skipper die Gelegenheit genutzt, fällige Checks oder Reparaturen durchzuführen (eine Auswahl in unserer Bildergalerie oben).
Einer, der unbehelligt von diesem Wettergeschehen bleiben dürfte, wirkte heute zufrieden, ja auf ansteckende Weise zuversichtlich: Yoann Richomme. Der hatte zunächst Sébastien Simon Platz zwei abgenommen - nach einer mehrere Tage währenden Aufholjagd, der nicht einmal Thomas Ruyant auf seinem Schwesterschiff folgen konnte. Beim Positions-Update um 18 Uhr UTC schnappte er Boris dann auch noch die 24-Stunden-Bestmarke des Tages weg und schraubte sie um gut 10 auf 510,54 Seemeilen hoch. Das sind knapp 950 Kilometer - mal eben die Strecke Flensburg - München, per Windkraft.
Yoann erklärte, in seinem gefederten Schalensitz fröhlich auf- und ab-wippend, dass es für die kommenden drei Tage gut aussieht für ihn und Charlie Dalin, dem er ebenfalls reichlich Strecke abgenommen hat. Zuletzt trennten ihn nur noch 132 Seemeilen von Platz eins. Vor einer Woche, an Nikolaus, als der “Paprec-Arkéa”-Skipper dem ersten großen Sturmtief weit nach Norden ausgewichen war, waren es noch mehr als 600!
Bleiben die beiden Topfavoriten im schmaler werdenden Windfeld, und schaffen sie es, dem Hoch davon zu segeln, können sie sich noch weiter absetzen und laufen nicht Gefahr, in dem von Westen aufziehenden Sturmtief aufgerieben zu werden.
Wenn Du dem Tief nicht entkommst, wird es Dich überrollen” Sam Goodchild
Wer den Eindruck gewonnen haben sollte, dass die Vendée ein wenig öd geworden sei, kann sich auf spannende, für die Skipperinnen und Skipper höchst anspruchsvolle Tage freuen. Für Boris Herrmann bietet sich absehbar eine Großchance: Zwar wird auch er auf Nummer sicher gehen müssen, wenn es ganz hart kommt. Davor und danach aber kann er die Stärken seiner erprobten VPLP-Konstruktion nutzen und die filigraneren Boote achteraus lassen.