Die zu Ende gehende neunte Rennwoche der Vendée Globe für Boris Herrmann eine “bewegte” zu nennen, wäre eine heftige Untertreibung. Ein naher Blitzeinschlag hatte wichtige elektronische Ausrüstung lahmgelegt. Dazu musste der “Malizia – Seaexplorer” trotz Höhenangst zweimal in den Mast. Die jüngste MacGyver-Aktion erfolgt in der Nacht zum Samstag. An Renntag 62 der Vendée Globe gelang es Boris Herrmann – bei Dunkelheit und vom Mond erleuchtet – in den Mast zu steigen und das wichtige J2-Vorsegel im Schein seiner hell leuchtenden Stirnlampe wieder zu setzen und zu befestigen.
Seinen Vendée-Globe-Clip aus der Nacht von der schnellen Aktion kommentierte Boris Herrmann kurz oben im Mast: “Es ist schon dunkel, man sieht den Mond. Ich habe ein schönes Spotlight hier (zeigt auf seine hell leuchtende Stirnlampe), hier ist das Vorsegel. Okay, ich komme besser wieder runter.” Die jüngsten Tracker-Daten zeigten zum Wochenendbeginn, dass “Malizia – Seaexplorer” wieder schneller vorankam.
Das am Vortag gebrochene Fallenschloss für das J2, das halb runtergerauschte Segel und die Lösung, die Boris Herrmann schneller als gedacht gelang, haben den 43-Jährigen bei seiner zweiten Vendée Globe im Kampf um die Plätze vier bis zehn wertvolle Meilen gekostet. Vormittags am 11. Januar lag der “Malizia – Seaexplorer”-Skipper auf Platz neun. Von seinem ehemaligen Ocean-Race-Navigator Nico Lunven (”Holcim - PRB”) auf Platz acht trennten Herrmann rund 50 Seemeilen. Vor Justine Mettraux auf Platz zehn bei ihrer Vendée-Globe-Premiere wahrte er aber gut 100 Seemeilen Vorsprung.
An der Spitze der Flotte tobt indessen der Kampf um den Sieg bei der zehnten Jubiläumsauflage der Vendée Globe. Charlie Dalin (”Macif Santé Prévoyance”) verteidigte seine Führung auch drei Tage vor der erwarteten Zielankunft am 14. Januar. Aber: Verfolger Yoann Richomme konnte seinen Rückstand auch ohne den verlorenen Code Zero in teilweise etwas günstigeren Winden von 190 Seemeilen am Vortag auf 148 Seemeilen deutlich reduzieren. Charlie Dalin hatte vormittags am 11. Januar noch 1068 Seemeilen bis ins Ziel zu meistern. Mit seiner Ankunft wird inzwischen in der Nacht von Montag auf Dienstag oder in den frühen Morgenstunden des 14. Januars gerechnet.
Der Endspurt der beiden “Leuchttürme” dieser Vendée Globe wird auch deshalb spannend, weil sich ein Hochdruckgebiet durch die Biskaya bewegt. Nach jüngsten Prognosen sah es aber so aus, als könnten die beiden vorne liegenden Skipper es umsegeln. 819 Seemeilen hinter Dalin hatte gleichzeitig der Flotten-Dritte Sébastien Simon bei der 11-Uhr-Positionsaktualisierung am 11. Januar nur noch knapp 1887 Seemeilen bis ins Ziel zu meistern.
Bei mehr als 1900 Seemeilen Vorsprung auf den inzwischen auf Platz vier vorgerückten Briten Sam Goodchild segelte Simon weiter einer Sensation entgegen. Der 34-jährige Lokalmatador galt vor Rennbeginn als spannender Kandidat, hatte aber nicht auf den Listen mit den Top-Favoriten für die vordersten Plätze gestanden. Jetzt kämpft der Lokalmatador aus Les Sables-d’Olonne zur Freude seiner Landsleute im Start- und Zielhafen um den dritten Podiumsplatz.
Rückblick: Einige Monate nach seiner ersten schmerzhaften Erfahrung bei der Vendée Globe 2020/2021, die mit dem Aus vor Kapstadt endete, hatte der talentierte Sébastien Simon einen Tiefpunkt seiner Karriere erreicht. Der Sieger der Solitaire du Figaro 2018 durchlief danach eine Phase des Zweifelns und der Selbstreflexion, bevor es wieder steil bergauf ging. Die Wiederauferstehung liegt keine zwei Jahre zurück.
Seitdem hat der 35-Jährige aus Les Sables d'Olonne ein Team zusammengestellt, dem auch der engagierte Kieler Elektronikexperte Andreas Baden angehört, der selbst für die Zukunft eine Vendée-Globe-Teilnahme anstrebt. Seb Simon übernahm mit der Ocean-Race-Siegerin “Mālama” ein bewährtes Hochleistungsboot, bestritt vier Transats und setzte alles daran, seine Vendée-Globe-Geschichte weiter zu schreiben
Es war im Sommer 2023, als Simons Karriere die entscheidende Wende erlebte. Er bereitete sich dort auf seine Rückkehr nach Frankreich vor, nachdem er mit Team Guyot Environnement um die Co-Skipper Benjamin Dutreux und Robert Stanjek Anfang Mai 2023 den Mastbruch ihrer damaligen Imoca hatten erdulden müssen. Bis zum Start der 10. Vendée Globe waren es zu diesem Zeitpunkt weniger als zwei Jahre. Seb Simons großer Traum von der erneuten Teilnahme wurde immer unrealistischer.
Doch dann erhielt er eine SMS von Paul-Henri Dubreuil, dem Chef der gleichnamigen Unternehmensgruppe. „Es war ein Samstagmorgen“, erinnert sich Simon. Und weiter: „Er teilte mir einfach mit, dass er beschlossen hatte, die Vendée Globe anlässlich des 100-jährigen Bestehens der Dubreuil-Gruppe zu segeln“. Nur zwei Tage später trafen sich der Unternehmer und der Segler – und das Projekt, das jetzt die sogar die Chance auf einen Podiumsplatz hat, wurde gestartet.
Bei der Retour à La Base 2023 aber stand plötzlich wieder alles in Frage: Simon war vorne mit dabei, als er nach einem Schlag auf den Kopf eine Gehirnerschütterung erlitt, das Bewusstsein verlor und sich einen Wirbel brach. Er musste auf den Azoren anhalten, um elektronische Probleme zu beheben. Wild entschlossen setzte er danach seinen Kurs fort. Als wäre das alles noch nicht schlimm genug gewesen, brach kurz vor Erreichen der Ziellinie sein Mast. Unter Jury-Rigg erreichte Seb Simon dennoch die Ziellinie – und die Qualifikation für die Vendée Globe.
“Ich bin ein Kind der Vendée Globe.” Sébastien Simon
Für seinen Kampfgeist zahlte Simon einen hohen Preis, musste die ersten Monate des Jahres 2024 in einem Korsett ohne Segeln und Sport verbringen. Ihm schritt die Genesung zu langsam voran, doch er übte sich in Geduld.
Vier Jahre nach seiner ersten gescheiterten Erfahrung und dem Verlust seines Steuerbord-Foils bei dieser Edition bestreitet Simon die letzten Tage im Rennen seines Lebens. Keiner kennt die Kniffe und Feinheiten in der Bucht von Sables d'Olonne, keiner die Pontons von Port Olona so gut wie er, der hier groß wurde. Der Empfang für den Sohn der Stadt wird dem für die Sieger kaum nachstehen. Mit seiner Ankunft wird zwischen dem 16. und 17. Januar gerechnet.