Die Segelkarriere von Violette Dorange scheint unter einem guten Stern zu stehen. 2001 erblickt sie im westfranzösischen Rochefort das Licht der Welt – ausgerechnet in jenem Jahr, als die erst 24-jährige Ellen MacArthur sensationell Platz zwei in der vierten Edition der Vendée Globe erkämpft. Kein Wunder, dass die britische Ausnahmeseglerin zu Doranges absoluten Idolen gehört.
23 Jahre später hat sich Violette Dorange selbst auf den Weg gemacht, um am härtesten Segelrennen der Welt teilzunehmen. Als jüngste Starterin der Vendée-Geschichte kann Dorange auf drei alte Hasen der französischen Offshore-Szene zählen, die ihr als Mentoren beistehen: Jean-Pierre Dick (Spitzname „JP“), Damien Guillou und Jean Le Cam. Während „JP“ als Freund der Familie schon lange als Förderer im Spiel war, ist Guillou das technische Gehirn der Kampagne, der bereits die Vendée-Boote von Escoffier und Le Cam vorbereitete. Letzterer hat sein Schiff von der letzten Auflage der Kultregatta zur Verfügung gestellt, mit dem er den viel umjubelten vierten Platz heraussegelte. 2009 war es sogar das Gewinnerboot von Michel Desjoyeaux. Technisch kann der 17-Jahre alte Non-Foiler zwar nicht mit den aktuellen Hightech-Raketen mithalten, aber das Boot hat sich immer wieder aufs Neue bewährt und den enormen Dauerbelastungen standgehalten.
Doch was steckt hinter der protegierten und von ihrem Team hermetisch abgeschirmten Newcomerin? Viel dringt nicht nach draußen und Interview-Anfragen werden kategorisch abgelehnt. Auf ihrem Social-Media-Kanal Instagram gibt Violette Dorange dagegen Einblicke in ihr Segler- und Seelenleben. Sie wirkt klein, zart, zerbrechlich, aber auch zielgerichtet und in sich ruhend, wie es nur Menschen sein können, die ihr halbes Leben auf dem Meer verbracht haben. Dabei versprüht die tatsächlich nur 1,60 Meter große Französin so viel Charme und Liebenswürdigkeit, dass man sie einfach ins Herz schließen muss. Über 80.000 Follower konnte sie schon vor dem Start in Les Sables-d’Olonne gewinnen.
Sie selbst hat ein großes Herz für benachteiligte Kinder und Jugendliche. Seit ihrer eigenen Volljährigkeit engagiert sich die Seglerin ehrenamtlich für die Stiftung Apprentis d’Auteuil. „Ich hatte schon immer den Wunsch, einen Nutzen für die Gesellschaft zu haben und meinem Projekt einen Sinn zu geben. Ich wäre nicht hier, wenn man mir nicht eine Chance gegeben hätte, oder mir nicht vertraut hätte. Ich möchte, dass sie ihrerseits an sich und ihre Zukunft glauben.“ Beim Betrachten der Bilder erscheint es unmöglich, dass es sich dabei um eine PR-Maßnahme handelt, die nur darauf abzielt, Sponsoren zu gewinnen. Ob beim Besuch in den Einrichtungen der Stiftung oder bei Trimmübungen an Bord des Imoca: Violettes Augen strahlen mit denen der Kinder um die Wette.
Der sportliche Wettkampf hat sie von Kindesbeinen an motiviert. Im Alter von 13 Jahren segelt sie für Frankreich bei der Optimisten-WM in Argentinien. Umgeben von 300 Mitstreitern aus der ganzen Welt, wird ihr das erste Mal bewusst, dass sie es mit dem Segelsport weit bringen kann. Im selben Jahr beginnt auch das Abenteurerherz in ihrer Brust zu schlagen. Inspiriert von Extremsportler Mike Horn und ihren Segelheldinnen Ellen MacArthur und Samantha Davies, reift die Idee für das erste eigene Projekt: die Überquerung des Ärmelkanals mit dem Opti.
Zwei Jahre später setzt Violette ihren Plan erfolgreich um und segelt von der Isle of Wight nach Cherbourg. Die nächtliche Abfahrt, der erste Sonnenaufgang auf dem Meer und 15 Stunden pausenlos zu segeln, lassen aus dem kleinen Projekt ihr erstes großes Abenteuer werden. Es folgt die Querung der Straße von Gibraltar, ebenso im Opti, und die Erkenntnis, es bald mit der Hochsee aufnehmen zu wollen. Die Segelkarriere nimmt rasant Fahrt auf. Zweimal wird sie französische Meisterin im 420er und es lockt der Gedanke an Olympia. Doch statt des Sprungs auf die 470er-Rennjolle und die olympische Laufbahn fällt die Entscheidung für eine Mini-Transat-Kampagne. Der Ruf des Ozeans ist bereits zu mächtig und soll die junge Frau nicht mehr loslassen.
Als jüngste Teilnehmerin wirft sie sich 2019 im Alter von 17 Jahren in ihr erstes Rennen über den Atlantik. Gestartet im heimischen La Rochelle, erreicht sie nach dem obligatorischen Zwischenstopp auf Gran Canaria die Karibik auf Platz 16. Es folgen drei Jahre im Rennzirkus des Figaro de Solitaire, wobei sich die unermüdliche Newcomerin vom dreißigsten auf den zehnten Platz vorarbeitet. Bereits während dieser Zeit fällt der Entschluss, bei der Vendée Globe 2024 anzutreten. Ein bisschen früh, wie sie selbst später zugibt, aber warum warten, wenn sich die Gelegenheit ergibt? Und schließlich musste sie sich schon immer mit älteren und oft auch männlichen Seglern messen.
Bereits als kleines Mädchen stand sie auf der Kaimauer in Les Sables-d’Olonne, um die in Frankreich so verehrten Hochseehelden beim Auslaufen zu verabschieden. Auch wenn sie damals Bedeutung und Dimension dieses volksfestartigen Events noch nicht verstehen kann, das Gefühl von Aufbruch und Abenteuer verankert sich tief in ihr.
Nun hat sie sich selbst ihren Weg durch den legendären, von Tausenden Fans gesäumten Kanal gebahnt, der zum Start führt. Zusammen mit ihren Idolen und weiteren Granden der Offshore-Szene. Wie auch immer ihr Soloritt ausgehen mag, diesen magischen Moment kann ihr niemand mehr nehmen. Aktuell liegt sie im Mittelfeld.
Doch der Weg hierhin war keinesfalls ein Selbstgänger, auch nicht für die stets unbekümmert wirkende Senkrechtstarterin. „Der schwierigste Teil der Vendée besteht darin, es überhaupt bis zur Startlinie zu schaffen.“ So erklärte es schon der zweimalige Teilnehmer Norbert Sedlacek einst im YACHT-Interview. Allein die langwierige und kräftezehrende Sponsorensuche ist eine enorme mentale Belastungsprobe.
Violette Dorange muss zeitgleich ein Boot organisieren, Sponsoren finden und so viel Hochseeerfahrung sammeln wie nur möglich. Nicht nur für die Qualifikation, sondern auch um Technik, Taktik und Durchhaltevermögen zu trainieren. Schließlich war sie noch nie länger als 20 Tage solo und nonstop auf einem Boot. Und ein Mini macht noch lange keinen Imoca.
Jean Le Cam ist beeindruckt von der jungen Dame und reserviert ihr sein Boot von der letzten Vendée so lange, bis die Finanzierung steht.
Der gewonnene Hauptsponsor des Projekts „Devenir“, der in goldenen Lettern auf den dunklen Tüchern prangt, mag ungewöhnlich erscheinen, erfüllt seinen Zweck jedoch genauso wie die altbekannten Offshore-Sponsoren Holcim (Baustoffproduzent) oder Maître CoQ (Lebensmittelhersteller). Interessant ist dabei, dass fast die gesamte Franchise-Landschaft Frankreich abgegrast wurde und sich rund 130 Filialen an dem Projekt beteiligen. Ob die Rennziege „Devenir“ auch mit Fast-Food-Produkten von McDonalds versorgt wurde, bleibt jedoch ein Geheimnis.
Mit Le Cams verdienter „Hubert“ alias „Devenir“ wird 2023 die Atlantikregatta Retour à La Base zur Feuerprobe für die frischgebackene Solo-Imoca-Skipperin. Wieder ist sie die jüngste. Nach gutem Start treten Schwierigkeiten auf, Violette versteht ihr Boot noch nicht. Segel und Autopilot sind nicht gut eingestellt und es kommt zu einigen Brüchen. Aber sie erreicht das Ziel und das Lehrgeld ist gut angelegt. In den beiden Atlantikrennen Transat CIC und New York Vendée in 2024 wählt sie einen konservativeren Performance-Ansatz und bereitet ihr Boot vor jeder herannahenden Front penibel vor. Mittlerweile besteht ein gutes Verständnis zum Gleichgewicht von Sicherheit und Leistung – ein Ansatz, wie man ihn auch von Boris Herrmann kennt.
Trotz eines angefangenen Ingenieurstudiums bereiteten die komplexe Elektrik oder das Reparieren von Verbundstoffen auf hoher See etwas Kopfschmerzen. Dieser Mangel an Wissen und Erfahrung ließ sich nicht hundertprozentig ausmerzen bis zum Start. Violette muss sich daher bei kniffligen Situationen auf Hilfestellungen ihrer Landcrew um Damien Guillou verlassen. Dass sie bei entsprechendem Winddruck auch körperlich einen Nachteil gegenüber den Männern haben könnte, ist ihr bewusst. Dieses Ungleichgewicht versucht sie, durch gutes Management der körperlichen Energiereserven sowie einer optimalen Langzeitstrategie auszugleichen.
Auf die Dauerstrapazen, insbesondere im notorisch stürmischen Südpolarmeer, kann sich niemand richtig einstellen, der es noch nie selbst erlebt hat. Außer Fitness- und Schlaftraining sowie einer gehörigen Portion Ehrfurcht bleibt nicht viel. Da muss man einfach durch und seine Erfahrungen sammeln. Violettes größtes Idol, Ellen MacArthur, hat diese Reifeprüfung mit Bravour bestanden und bewiesen, dass Frauen im Hochseesegelsport den Männern mehr als ebenbürtig sein können. Genauso wie die Südafrikanerin Kirsten Neuschäfer, die das Golden Globe Race gewinnen konnte, oder zuletzt die US- Amerikanerin Cole Brauer in der Global Solo Challenge.
Die Liste lässt sich fortführen, allein bei dieser Vendée starten sechs Frauen. Es scheint nur eine Frage der Zeit, bis die erste auch den Mount Everest der Meere gewinnt. Ein Podiumsplatz spielt in Violettes Gedankenwelt jedoch noch keine Rolle, wie sie vor der Abfahrt sagte: „Mein größter Traum für dieses Rennen wäre, es auch beenden zu können, ganz unabhängig von der Platzierung. Ich weiß aber, dass es aus den unterschiedlichsten Gründen jederzeit vorbei sein kann – sei es aufgrund einer Kollision mit einem Container oder einem anderen unvorhergesehenen Ereignis. Und selbst wenn das passieren sollte, wäre ich allein darüber glücklich, diese lehrreichen Transatlantikfahrten und die ganze Vorbereitung absolviert haben zu dürfen. Es würde mich auch nicht davon abhalten, in vier Jahren wieder anzutreten. Das ist der Geist der Vendée Globe!“