Die animierten Winddaten des Trackers ließen schon seit Tagen nichts Gutes vermuten. Und in der Böen- oder Seegangs-Ansicht wirkt es auch jetzt noch so, als liefen die beiden Führenden Gefahr, von dem Monster-Tief verschluckt zu werden.
Tatsächlich aber ging die Pokerpartie zu ihren Gunsten aus, bislang jedenfalls. Charlie Dalin erinnerte im Video-Interview mit Vendée-Live-Moderator Andi Robertson heute Mittag jedoch daran, dass es noch nicht vorbei sei. “Ich weiß immer noch nicht, ob es eine gute Entscheidung war. Wir werden es in 24 Stunden herausfinden”, sagte der Favorit auf den Gesamtsieg.
Dabei war ihm die Erschöpfung trotz der pixeligen Übertragung deutlich anzusehen. Tief lagen seine Augen, fahl der Gesichtsausdruck, und bei jedem zweiten Satz bockte das Boot, als wolle es ihn aus seinem Sitz schleudern. Das war - wohlgemerkt! - als er das Schlimmste hinter sich hatte und schon wieder gut 22 Knoten loggte.
Ich bin ziemlich müde. Muss mich bald ausruhen. Aber ansonsten: alles gut!” Charlie Dalin
Er habe es geschafft, vor seinem Routing zu bleiben”, sagte der Skipper der “Macif Santé Prévoyence”. Das war der Schlüssel für seine ansonsten potenziell hochriskante Taktik: zu versuchen, so lange wie möglich die Vorderseite der Sturmfront zu reiten, in noch beherrschabrem Seegang. Und das gilt auch für den weiteren Rennverlauf bis Australien. “Jeder gewonnene Meter in Richtung Osten ist Gold wert. Es bedeutet, dass uns die Rückseite erst später trifft, mit weniger Wind und Welle.”
Charlie räumte ein, dass er einen Möglichkeit gehabt hätte, nach Norden auszuweichen, wie dies Yoann Richomme, Thomas Ruyant, Jéremie Beyou und Nico Lunven schon vor zwei Tagen gemacht hatten. “Das wäre für mich aber teurer gewesen als für die anderen.”
Vor der Entscheidung, im Süden zu bleiben, habe er “wahrscheinlich zehn Stunden vor dem Computer verbracht und Hunderte von Routings durchgespielt”. Als er sich festgelegt hatte, mochte er freilich nicht mehr dauernd die nahende Front verfolgen. “Ich versuchte, nicht zu viel auf Adrena zu schauen, denn es wäre zu beängstigend, die großen roten Pfeile für 60 Knoten Wind zu sehen. Ich bin wie ein Pferd, das Scheuklappen aufhat.”
Das noch bemerkenswertere Statement Dalins aber war dies:
Es hat Spaß gemacht, gegen dieses Monster zu segeln.” Charlie Dalin
Das sei das Erstaunliche an dieser Generation der Imocas: “Sie ermöglichen uns, taktisch neue Dinge zu tun - Dinge, die wir bisher nur mit Mehrrumpfbooten machen konnten”.
Dem Führenden, der vor der Vendée Globe auch schon Rang eins der Imoca-Rangliste behauptete, mag bei seiner Entscheidung auch geholfen haben, dass er vor vier Jahren - ebenfalls im Indischen Ozean - schon einmal mehr als 50 Knoten Wind überstand. Damals war er phasenweise nur noch mit der kleinen Fock unterwegs, hatte die Foils maximal eingezogen und konnte das Boot eigentlich nur sich selbst und dem Autopilot überlassen.
Solche Erfahrungen hat Seb Simon nicht. Doch auch er hielt tapfer Kurs - und kam bisher bemerkenswert gut durch die aufgewühlte See, die seinem Verdier-Design eigentlich gar nicht so sehr liegt. Er hatte schon im Südatlantik mit gleich mehreren 24-Stunden-Solo-Rekorden seine Entschlossenheit und sein Können demonstriert. Dass er als Einziger Charlie Dalin auf den Fersen geblieben ist, macht ihn mehr denn je zu DER Überraschung dieser Vendée Globe.
Gestern demonstrierte er in einem sehenswerten Video, wie hart die Bedingugen sind. Da verließ er kurz den Schutz seines gekapselten Cockpits, um am Vorliek die Lasching fürs dritte Reff im Groß einzulegen. Schaumstreifen legten sich über die imposanten Wellen, Gischt wusch ihn fast vom Kajütaufbau, als er wieder zurück ins Cockpit kletterte. Und das war erst der Beginn der bislang stürmischsten Phase...
Weiter hinten im Feld ging es auch ziemlich hart her. Sam Goodchild, der dem Tief mit respektvollem Abstand folgt, musste erst eine Buchse des Steuerbord-Ruders tauschen, die ausgeschlagen war. Das kostetet ihn einige Meilen - und jede Menge Kraft. Nach einer einstündigen Pause konzentrierte er sich dann wieder auf die Suche nach dem richtigen Gleichgewicht zwischen ausreichender Geschwindigkeit und dem Hineinbohren in vorauslaufende Wellen. “Das Boot will 30 Knoten laufen”, schilderte der sympathische Brite, der auf einem 2019er-Boot unterwegs ist. “Aber in diesem Seegang geht das nicht.”
Was sonst noch alles los war, steht in unserem ständig aktualisierten Vendée-Ticker. Boris Herrmann etwa musste seine J2-Lasching reparieren. Er ist inzwischen auf Rang elf vorgerückt, wird aber bei der aktuellen Pace der Spitzenreiter weiter Meilen verlieren. Derzeit segelt er rund 1360 Seemeilen achteraus.
Er bleibt dabei bemerkenswert entspannt und genoss heute Nachmittag im Netz der mit Holzfolie beklebten Achterkajüte liegend den Blick aus den Fenstern, ließ sich - ergebnislos - den Weg von seinem Standort zu seinem Häuschen in Hamburg anzeigen und chattete mit Freunden, die die ARC segeln. Eine Masterclass in mentaler Stärke.
Hinter ihm musste Clarisse Crémer etwas abreißen lassen. Auch bei ihr war der Schaft der Foilverstellung geborsten, ähnlich wie einen Tag zuvor bei Boris, wenn auch auf dem anderen Bug. Sie verbrachte die Nacht mit dem Zusägen von Kunstoffkeilen, mit denen sie das obere Ende des Steuerbord-Tragflügels im Foilkasten fixierte. Danach konnte sie sich kaum wach genug halten, um noch kurz ein Video aufzunehmen.
Ungleich härter traf es schon gestern Mittag Louis Burton, als ihm das J2-Vorstag brach. Was genau kollabierte, ist bisher noch nicht bekannt. Die Konsequenz aber ist bitter: In der Nacht gab er bekannt, dass er aus dem Rennen ausscheidet und Kapstadt anläuft. Nachdem er schon im Atlantik einen Schaden an Rumpf und Deck erlitten hatte, den er mühsam überlaminierte, hieß es jetzt für ihn: Game over. Es ist erst die zweite Aufgabe dieser Vendée Globe. Hoffentlich folgen nicht mehr viele!
Marcus Hutchinson, früherer Team-Manager von Thomas Ruyant und aktuell für den Schweizer Ollie Heer im Einsatz, sagte mit Blick auf die jüngsten Sturmfronten, er ziehe seinen Hut vor den Skippern. Hutchinson weiß, wie haarig solche Rennphasen sind, wie wenig es braucht, um ein Projekt entgleisen zu lassen. “Ich schlafe nicht sehr gut, wenn sie diese Dinge tun”.