Vendée GlobeHochhauswellen, bissige Kälte und Slalom in den Schreienden Fünfzigern

Tatjana Pokorny

 · 07.12.2024

Vorne im Feld haben es die Solisten mit amtlichem Seegang zu tun. Diesen "Berg" hielt der zweitplatzierte Seb Simon auf "Groupe Dubreuil" fest.
Foto: Sebastien Simon/VG2024
Im zwei Grad kalten Southern Ocean schrammen die Führenden auf Kurs Kap Leeuwin an der Eisgrenze entlang. Bei Wassertemperaturen nahe dem Gefrierpunkt arbeiten sich Spitzenreiter Charlie Dalin und sein inzwischen etwas abgeschüttelter, aber hartnäckiger Verfolger Sébastien Simon im klassischen Halsen-Zickzack entlang der Grenze der Verbotszone. Boris Herrmann lag am Samstagvormittag auf Platz elf, war zuletzt vier Knoten schneller unterwegs als die Frontmänner.

Der rasende Spitzenreiter Charlie Dalin hat seinen Vorsprung vor seinem ersten Verfolger Sébastien Simon in der Nacht zum 7. Dezember auf fast 300 Seemeilen ausgebaut. Am Nikolaustag hatten die Führenden entsprechend der Prognosen auf der Rückseite des sie erreichenden Tiefdruckgebietes mit mehr als 40 Knoten Wind zu kämpfen, am Samstagmorgen waren es immer noch 35 Knoten. Seb Simon war den stürmischen Winden mit kleinerem Vorsegel und insgesamt etwas konservativer begegnet als Charlie Dalin.

Vendée Globe: in den “Schreienden Fünfzigern”

Ihr Umfeld bleibt extrem fordernd: Die Wellen erreichen tief unten im Südpolarmeer teilweise die Größe von Hochhäusern. Es herrscht bissige Kälte. Das gilt insbesondere für die beiden Führenden und vor allem für ”Groupe Dubreuil”-Skipper Simon, der an diesem Samstagvormittag in der Antarktischen Ausschlusszone (AEZ) segelte und sich dabei inzwischen sogar in die “Schreienden Fünfziger” begeben hat. Östlich der Kerguelen, wo Eisberge direkt von Süden nach Norden wandern, segelte Simon unterhalb des 50. Breitengrades Süd.

Hier herrschen Wassertemperaturen nahe dem Gefrierpunkt. „Es ist eiskalt“, berichtete Sébastian Simon. Das Wasser ist in seinem Renngebiet nicht wärmer als zwei Grad Celsius. Der Wind ist frostig kalt und aggressiv. Kälte und Feuchtigkeit sind seit Tagen die treuesten Begleiter. An Bord der “Groupe Dubreuil” trieft jede Oberfläche, vom rutschigen Deck bis zu den beschlagenen Fenstern, von dieser Südmeerkälte.

Ich verstehe, warum die neuesten Imocas komplett geschlossene Cockpits haben.” Antoine Cornic

„Diese Kälte spürst du nicht nur auf der Haut, sie dringt in dich ein, prägt sich ein und scheint ein Teil von dir werden zu wollen“, erklärte auch Antoine Cornic, der im hinteren Teil der Vendée-Globe-Flotte auf Platz 31 lag. Auch er wird seit seinem Eintritt in den Southern Ocean von der kalten Dauernässe geplagt wird.

Wärme aus dem Vendée-Globe-Adventskalender

„Ich verstehe, warum die neuesten Imocas komplett geschlossene Cockpits haben. Ich selbst habe ein altmodisches Boot. Um mich selbst zu erhalten, habe ich keine andere Wahl, als viel im Inneren zu leben. Im tiefen Süden muss es ein Glück sein, in einer Blase versteckt zu segeln und so weiterhin das Meer betrachten zu können“, fügte “Human Immobilier”-Skipper hinzu.

Hoch im Kurs stehen bei vielen Skippern Handwärmer, die sie sich in ihre Handschuhe oder Stiefel stecken. “Vulnerable”-Skipper Sam Goodchild erklärte: “Ich habe in einem der kleinen Kästchen meines Adventskalenders ein wiederaufladbares Kit gefunden.” Er will die Mini-Wärmflaschen einsetzen, wenn er noch weiter in den Süden vorgedrungen ist. Goodchild hatte zuletzt eine Extra-Portion Schlaf bekommen, weil der Wind in seinem Renngebiet wieder stabiler geworden ist.

Am Samstagmorgen zählte der Brite, der sich rund 430 Seemeilen nördlich der Kerguelen befand, noch nicht zu denjenigen, deren Finger taub waren und bei denen sich jeder Atemzug in eine kurzlebige Wolke verwandelt. Aber er wusste, dass ihn die brutale Kälte bald packen wird. Sam Goodchild war zuletzt wieder auf Platz sechs vorgerückt, gehört der Gruppe der fünf Boote an, die das Spitzenduo Dalin und Simon und die dahinter ebenfalls fast im Duett segelnden Yoann Richomme und Thomas Ruyant auf den Plätzen drei und vier verfolgen.

Richomme und Ruyant sind längst nach Süden abgebogen, jagen den Führenden an der Eisgrenze mit 520 und 620 Seemeilen Rückstand hinterher, die sich mit ihrer Flucht nach Norden vor dem herannahenden Tief aufgetürmt hatten. Sowohl Richomme als auch Ruyant waren am Samstagvormittag einige Knoten schneller unterwegs als der rund 600 Seemeilen südöstlich von Richomme segelnde Frontmann Charlie Dalin.

Dalin dominiert die Vendée Globe

Dalins Leistungen mit seinem Verdier-Design bleiben bemerkenswert. Nach jüngsten Prognosen wird er bald einen Vorsprung haben, der bei den aktuellen Geschwindigkeiten 24 Rennstunden vor den dritt- und viertplatzierten Skippern entspricht. Alles deutet darauf hin, dass Charlie Dalin einen neuen Rekord für die Passage durch den Indischen Ozean aufstellen kann.

Seinen Verfolgern ist mehr als bewusst, dass der Zweite der neunten Vendée-Globe-Edition sich mit seinem selbstbewussten Südkurs eine hervorragende Ausgangsposition für den weiteren Verfaluf dieser zehnten Auflage verschafft hat. Der viertplatzierte “Vulnerable”-Skipper Thomas Ruyant sagte: “Der Wind lässt hinter uns nach. Unser Ziel ist es, schnell zu sein. Aber selbst das wird uns vorerst nicht dazu bringen, den Vorsprung von Charlie aufzuholen. Charlie ist mit seiner Südoption gut unterwegs.”

Für uneinholbar hält Ruyant Dalins Vorsprung indessen nicht: “Er wird einen schönen Vorsprung haben, aber gemessen am Maßstab der Vendée Globe wird es immer noch ein überschaubarer Vorsprung sein. Wir werden die Jäger sein. Wir werden tiefer graben, um vor dem zu bleiben, was hinter uns ist. Wenn wir in unserem Fluss bleiben können, den wir haben, können wir auch bei rauer See schnell segeln. Ich will auch nicht, dass der Abstand zur Spitze zu groß wird. Ich möchte an der Spitze der Flotte im Spiel bleiben.”

Die Bedingungen? Nicht einfach!

Wie auch Yoann Richomme räumte Thomas Ruyant ein, dass er vom glücklichen Verlauf von Dalins und Simons noch vor wenigen Tagen als risikoreich erscheindenen Südoption überrascht war. Der bisherige Dominator der Vendée Globe hatte es geschafft, sich in stark fordernden Bedingungen tief im Süden auf dem kürzeren Weg vor dem Zentrum des Tiefs zügig nach Osten zu bewegen. Thomas Roúyant sagte: “Ich hätte nicht gedacht, dass die Südoption so gut läuft. Charlie hat es geschafft, schnell zu fahren. Ich will auch sicherstellen, dass er nicht zu weit vorneweg segelt.”

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Sein eigenes Boot, so Ruyant, habe er gut im Griff. Der 43-Jährige erklärte: “Wenn ich zu viel Segel setze, fährt das Boot viel schneller und beschleunigt zu sehr in den Wellen. Wenn es zu wenig ist, springt das Boot nicht schnell genug an. Von Zeit zu Zeit gibt es ein paar kleine Crashs, aber ich bin wirklich zufrieden mit dem Verhalten des Rumpfes bei diesen Bedingungen, die nicht einfach sind.“

Vendée Globe: Boris Herrman bald in den Top Ten?

Hinter den Top-Neun segelte die Gruppe um Boris Herrmann am Vormittag des 7. Dezember auf Kurs Kerguelen. Bei rund 1400 Seemeilen Rückstand auf Charlie Dalin lag der “Malizia – Seaexplorer”-Skipper auf Platz elf. Er hatte beim 11-Uhr-Update nur noch 30 Seemeilen Rückstand auf die Gruppenführende Justine Mettraux auf “TeamWork - Team Snef”. Damit hatte Boris Herrmann seinen Rückstand vom Vortag halbiert und könnte bald schon in die Top-Ten vordringen.

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Unangenehme Überraschungen erlebten indessen Skipper im Mittelfeld und weiter hinten. Für Tanguy Le Turquais etwa hatte der Nikolaus am Freitag eine gemeine Überraschung parat: Auf “Lazare” brachen drei Großsegellatten. Erleichternd und wieder lächelnd, konnte der Mann von “L’Occitane en Provence”-Skipperin Clarisse Crémer inzwischen aber die gelungene Reparatur vermelden.

RADIKAL! Die Zusammenfassung vom Vorabend zeigt Vendée-Globe-Solisten wie Boris Herrmann (11.), Isabelle Joschke (20.) und weitere in extrem unwirtlichen Bedingungen:

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