Fast ist das Ziel schon in Sicht. Aber eben auch nur fast. Wie Bergsteiger, die mühsam den Gipfel erklommen haben und erst von dort aus sehen, dass noch weitere folgen, haben auch die Solisten bei der Vendée Globe zu kämpfen. Ein Tief jagt das nächste. Je nachdem, in welcher der drei “Gruppen” der Flotte auf den Plätzen vier bis 13 sich ein Boot gerade befindet, sind Skipper oder Skipperin in unterschiedlicher Weise gefordert. Ihr finaler Gipfelsturm hat es in sich.
„Diese letzten Tage des Rennens sind alles andere als ein langer, ruhiger Fluss“, bestätigte Clarisse Crémer. Die “L’Occitane en Provence”-Skipperin sagte im Gespräch mit Vendée-Live!-Moderator Andi Robertson: “Es ist besser, nicht zu viel darüber nachzudenken, wie viele Buckel noch kommen, sonst droht Enttäuschung. Die Idee ist, einen nach dem anderen zu nehmen. Was kompliziert ist, ist diese Ungewissheit: Werde ich am Sonntag ankommen oder nicht?”
In der Biskaya wird für Sonntag ein besonders starkes Tiefdruckgebiet erwartet. “Solange es weiter an Fahrt aufnimmt, besteht sogar die Chance, dass ich langsamer fahren muss, und das ist moralisch schwer zu verkraften”, erklärte Clarisse Crémer ihre Gedankenwelt mit Blick auf das möglicherweise sogar zu stürmische Finale für die Boote auf den Plätzen zehn bis 13, die zwischen dem 26. und dem 27. Januar im Ziel erwartet werden.
An letzter Position dieses Quartetts segelte zu Beginn von Renntag 74 Boris Herrmann mit seinem gebrochenen Backbord-Foil. Seine Position erschien nach den jüngsten Prognosen mit Blick aufs Finale und das nahende “Monster-Tief” als eine der exponiertesten. Doch könnte der “Malizia – Seaexplorer”-Skipper ohne ganz nahe Konkurrenz von hinten, so sagte es auch Vendée-Live!-Moderator Andi Robertson, am ehesten seine Fahrt verlangsamen und auf diese Weise einer möglicherweise zu brutalen Begegnung mit dem Tief aus dem Weg gehen.
Knapp 170 Seemeilen vor Boris Herrmann segelte nachmittags am 22. Januar Sam Davies. Die erfahrene Britin bestreitet ihre vierte Vendée Globe. Auch sie sah dem Wochenende mit gemischten Gefühlen entgegen: "Um ehrlich zu sein, ich weiß nicht, wie ich nach Les Sables-d'Olonne kommen soll. Es sieht aktuell gerade eben okay aus bis zur Ziellinie, wenn ich dem Routing folgen kann, mit dem ich mich zur Zeit bewege. Ich sollte gerade noch vor einem wirklich großen Tief ankommen.”
Das war der gute Teil ihrer positiv-optimistischen Annahme. Der weniger gute: “Ich bin aber ziemlich sicher, dass es zu gefährlich sein wird, in den Kanal reinzufahren. So sieht es zumindestest nach der aktuellen Vorhersage aus.” Die “Initiatives - Cœur”-Skipperin verlieh jedoch im Interview am Mittwochnachmittag ihrer Hoffnung Ausdruck, dass es vielleicht doch "ein ganz kleines bisschen besser" gehen wird, um den Hafen von Les Sables-d’Olonne noch sicher und rechtzeitig erreichen zu können.
Zur Sendung Vendée Live! war auch Sam Davies' ehemaliger Co-Skipper, Ocean-Race-Gewinner Jack Bouttell zugeschaltet. Der in Australien geborene Profi teilte ihre Einschätzungen als Beobachter von Land aus.
Jack Bouttells sagte mit Blick auf Samantha Davies’ mögliche Zielankunft am Sonntag oder am Montag: “Sie könnte die Ziellinie vielleicht in akzeptablen Bedingungen schaffen (…), aber da ist die Möglichkeit, dass sie vielleicht nicht imstande sein wird, das Dock in Les Sables-d'Olonne zu erreichen." Bouttell befürchtete, dass die Hafeneinfahrt von Les Sables-d'Olonne in voraussichtlich stürmischen Winden und brechenden Wellen nicht passierbar sein wird.
Dazu beschrieb Bouttell mehrere Szenarien für Sam Davies: "Im besten Fall schafft sie es schnell genug nach Les Sables-d'Olonne rein oder das Tief wird langsamer. Oder sie schafft es ins Ziel und geht dann vielleicht nach La Rochelle und kommt ein paar Tage später nach Les Sables-d'Olonne." Im schlechtesten Fall, so Jack Bouttell, werde das System schneller oder verschlechtere sich. Dann seien eher Gedankenprozesse rund um die Seemannschaft, Verlangsamen und Warten gefordert.
Boris Herrmann konzentrierte sich am Mittwoch wie Sam Davies auf sein möglichst schnelles Fortkommen, war mit 16 Knoten Speed unterwegs. Er blickte analog zur Britin aufs Szenario, bestätigte gegenüber YACHT online in aller Kürze ähnliche Überlegungen.
Den Wettlauf mit dem Tief teilen mit Boris Herrmann und Sam Davies auch die vor ihnen liegenden Benjamin Dutreux (”Guyot Environnement – Water Family”, 10.) und Clarisse Crémer (11.). Veranstalter, Fachwelt und Fans verfolgen ihre Zielannäherung unter Hochspannung. Team Malizia hatte seinem Skipper bereits am Vortag Mut gemacht, “Stärke und Ermutigung” in Seine Richtung ausgesprochen. Co-Skipper und Wetterexperte Will Harris hatte erklärt, dass er Winde jenseits von 60, möglicherweise 70 bis 80 Knoten für Sonntag erwarte.
Vorne in der Gruppe der dem Ziel entgegenstrebenden Boote hatte der auf Platz vier liegende “Charal”-Skipper Jérémie Beyou am Mittwochenachmittag noch gut 400 Seemeilen bis ins Ziel zu meistern. Dabei betrug sein Vorsprung auf “Biotherm”-Skipper Paul Meilhat 155, auf Nico Lunven (”Holcim - PRB”) gut 200 Seemeilen. Zurückgefallen auf Platz sieben war Beyouys Langzeit-Duellgegner Sam Goodchild, der inzwischen sein bei einer Crash-Halse in zwei Teile explodiertes Großsegel in schwierigen Bedingungen bravourös reparieren konnte.
Nach aktuellen Wettervorhersagen sah es am Nachmittag so aus, als könnte diese Gruppe Kap Finistèrre recht nah passieren und klassisch von Südwesten in die Biskaya einbiegen. So müssten sie nicht – wie die drei Podiums-Skipper die Nordschleife drehen. Jérémie Beyou wird am Freitag im Ziel erwartet.
REPLAY! Hier geht es zur Sendung Vendée Live! mit interessanten Betrachtungen von Sam Davies und ihrem ehemaligen Co-Skipper Jack Bouttell zum Sturm-Szenario fürs Wochenende: