Tatjana Pokorny
· 11.01.2021
Sechs Boote sind bis auf gut 100 Seemeilen zusammengerückt. Charlie Dalin und Thomas Ruyant haben Yannick Bestaven überholt, Boris Herrmann wieder im Spiel
Als Boris Herrmanns Team-Wetterexperte Will Harris vor einigen Tagen sagte, Boris Herrmann könne auch noch aufs Podium vorfahren, klang das für seine Fans fast märchenhaft schön. Nun ist eine solche Realität zum Greifen nah. Aus rund 350 Seemeilen Rückstand am frühen Montagmorgen hat Herrmann binnen 24 Stunden 109 Seemeilen Rückstand auf den neuen Spitzenreiter Charlie Dalin gemacht. Etwa querab von Rio de Janeiro wird das lange atlantische Vendée-Globe-Finale beim 22. Breitengrad Süd zum Segel-Thriller.
Was sich am Montag schon angedeutet hat, setzte sich über Nacht fort. Gegen Ende des 65. Tages auf See lagen die ersten sechs Boote nur noch etwas mehr 100 Seemeilen auseinander. Und Boris Herrmann ist dabei. Er hat die vergangenen 24 Stunden in besten Windbedingungen wie entfesselt aufgeholt und rückte auf Platz sechs vor. Das gelang ihm mit Spitzengeschwindigkeiten bis knapp über 30 Knoten und den höchsten Durchschnittswerten in der Führungsgruppe. Dazu hatte der 39-Jährige am schon am Montagabend erklärt: "Das Segeln ist bei solchen Geschwindigkeiten natürlich nicht einfach. Der Preis dafür sind angespannte Nerven und fast kein Schlaf in 24 Stunden. Es sind gute Bedingungen, aber… Der Wind geht hoch und runter und fordert nahezu permanente Aufmerksamkeit. Wir haben die 30 Knoten für eine Sekunde erreicht. Ich habe mehrfache Segelwechsel hinter mit, aber ich beschwere mich nicht. Ich nehme jede Seemeile, solange sie umsonst ist. Morgen wird der Sprit alle sein."
Mit dem letzten Satz spielte Herrmann auf das sich heute im Verlauf des 12. Januar entwickelnde windärmere Szenario an, denn vorerst ist Schluss mit der "Raserei". Die ersten sechs Skipper sind bei abnehmenden Winden mit neun bis 14 Knoten Bootsgeschwindigkeit unterwegs. Langsamster blieb dabei zunächst der entthronte Spitzenreiter Yannick Bestaven ("Maître Coq IV"), den nicht nur Charlie Dalin, sondern auch Thomas Ruyant ("LinkedOut") am Dienstagmorgen nach 17-tägiger Jagd eingefangen hatte. Dalins "Apivia" an der Spitze und Damien Seguins "Groupe Apicil" auf Platz vier trennten nur 40 Seemeilen. Wenn das kein Versprechen für einen packenden Segelkrimi in den kommenden Tagen ist ...
Im französischen Fernsehen hatte Boris Herrmann schon am Vorabend gesagt: "Es ist fantastisch für das Rennen, dass es beim Aufstieg im Atlantik so eng zugeht. Es ist noch alles möglich. Für uns alle. Sogar für Yannick, der nicht so sehr weit voraus ist. Ich kann ihn auf meinem Bildschirm sehen. Die Regatta lebt noch! Und jeder ist bei seinem Match auf sich gestellt. In der Vergangenheit haben wir weniger spannende Atlantik-Aufstiege erlebt – da lagen vielleicht ein, zwei Boote klar vorn. Aber hier haben wir jetzt eine echte Bühne für verschiedene Boote, die noch aufs Podium segeln können. Vier, fünf oder sechs Boote. Und zweifelsohne werden noch andere Überraschungen kommen."
Im NDR-Interview erzählt Boris Herrmann, wie sich nach den Rückschlägen vor Kap Hoorn das aktuelle Hochgefühl der erfolgreichen Aufholjagd anfühlt
Das Szenario spricht für ein weiteres Vorrücken von Boris Herrmann auf den verbleibenden 4700 Seemeilen: Charlie Dalin und Thomas Ruyant sitzen zwar auf Top-Foilern, können nach Bruch aber beide nicht ihr Backbord-Foil einsetzen. Yannick Bestaven und Louis Burton agieren mit Foils der zweiten Generation. Und der weiter imposant segelnde Paralympics-Sieger Damien Seguin hat gar keine Foils. Auf dem Papier verfügt der erste deutsche Vendée-Globe-Starter im Kampf um die vorderen Plätze über das beste Boot.