Jochen Rieker
· 01.06.2024
Wer als Erster die nächste, nur rund 150 Seemeilen entfernte Front erreicht, die wieder frische bis in Böen stürmische Winde bringen wird, ist noch lange nicht ausgemacht. Denn die Wettermodelle liegen seit Beginn krass daneben, was Boris schmerzhaft erfuhr, als er es heute Nacht mitteleuropäischer Zeit mit einem schwachen Ostsüdostwind zu tun bekam, wo es eigentlich noch beständig aus Nordwest wehen sollte.
Was auf dem Tracker so aussah wie eine Abfolge von gut einem halben Dutzend Halsen, war tatsächlich eine Kreuz im Fahrtenboottempo – nur 4 bis 6 Knoten loggte “Malizia – Seaexplorer”, während die weiter südostlich segelnden Boote um Charlie Dalin gut 10 Knoten machten. So verlor Boris rasch an die 40 Seemeilen auf die Position des “Macif”-Skippers, den viele für einen der heißesten Sieganwärter bei dieser New York Vendée halten.
Im Ranking lag der Hamburger heute Morgen um acht noch vergleichsweise gut, rutschte nur vom ersten auf den dritten Platz ab. Das aber spiegelt nicht die ganze Wahrheit wider. Weil Boris näher am Großkreiskurs steht, der kürzesten Linie zwischen Start und Ziel, profitiert er derzeit rechnerisch. Taktisch aber könnte er stärker verloren haben. Gut möglich, dass der 43-Jährige im Lauf des Tages ans Ende der Führungsgruppe durchgereicht wird.
In einem Video von Bord, das heute Früh online ging, spürte man seine Enttäuschung. Er haderte mit dem Einfluss, den der Golfstrom auf Windstärke und -richtung hat. “Ich habe keine Ahnung, wie es möglich ist, dass der Wind so stark abgelenkt wird”, sagte er. An Deck seines dümpelnden Imocas stehend, peilte er die Lage und wunderte sich. “Ich sollte eigentlich mit 10, 15 Knoten raumschots segeln ...” Er frage sich, wie es den anderen wohl ergehe und ob er der Einzige sei, der hängen bleibe. “Ich hoffe wirklich, dass wir hier rauskommen.”
Gestern Abend klang er noch zuversichtlicher. Da lag er in Führung und zählte zu den Schnellsten. Dass er im Norden etwas exponiert war, war ihm bewusst. Aber er entschied sich bewusst, dem Wind und seiner eigenen Taktik zu folgen, statt näher an der Konkurrenz zu bleiben. Anders Sam Goodchild, der ihm lange gefolgt war. Er halste gegen 22 Uhr gerade noch rechtzeitig auf einen südöstlichen Kurs und konnte seinen Abstand auf die Spitze dadurch deutlich verringern.
Boris ist nicht der Einzige, dem das erratische Wetter Kopfzerbrechen bereitet. Sam Davies entschied sich, ihr Glück auf der anderen Seite des Feldes zu suchen. Sie steht derzeit 120 Seemeilen südlich des “Malizia”-Skippers und wird auch nicht ganz froh sein mit ihrer Position.
Einen noch extremeren Schlag machte Benjamin Dutreux, der bei The Ocean Race glücklose Skipper von “Guyot Environnement”. Er segelt noch 60 Seemeilen südlicher als Davies auf einsamem Kurs – eine Option, die Yoann Richomme, der Sieger des Transat CIC, gestern Früh zumindest für sich als aussichtslos erachtet hatte.
Langeweile kommt am Wochenende jedenfalls nicht auf! Auch nicht für die beiden Solisten, die derzeit die womöglich beste, weil schnellste Gasse durch die Systeme gefunden haben: Boris’ Ocean-Race-Taktiker Nico Lunven und Charlie Dalin. Sie haben die Chance, sich abzusetzen, sobald sie die nächste Front im Osten erreichen. Aber das wird kein Spaziergang, denn sie bringt zwischen 20 und 40 Knoten Wind – allemal genug, um die Skipper und ihre Boote bis an die Grenze zu fordern.
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