Boris HerrmannVendée Globe: Hintergründe zur Kollision der "Seaexplorer"

Jochen Rieker

 · 28.01.2021

Boris Herrmann: Vendée Globe: Hintergründe zur Kollision der "Seaexplorer"Foto: YACHT/J. Rieker
Spuren des Aufpralls auf 220 Tonnen Schiffsstahl. Der Bug von Boris Herrmanns "Seaexplorer" nach der Kollision mit einem spanischen Fischkutter

Kaum im Ziel, sieht sich der erste deutsche Vendée-Globe-Finisher einer Diskussion über Seemannschaft und Schuld gegenüber. Versuch einer Einordnung

Der Vorfall liegt schon zwei Tage zurück, und gestern geriet er wegen der Freude über Platz fünf bei der Vendée Globe kurz in den Hintergrund. Umso heftiger wogt in den sogenannten Sozialen Medien und manchen Tageszeitungen inzwischen jedoch wieder die Frage, ob Boris Herrmann fahrlässig gehandelt habe, als er auf den letzten 100 Seemeilen bis ins Ziel schlafend in ein spanisches Fischereifahrzeug fuhr.

Selbst die seit Jahrzehnten immer wieder hitzig geführte Debatte über die Unvereinbarkeit des Einhandsegelns mit Paragraph 5 der Kollisionsverhütungsregeln entzündete sich daran erneut. Ein Mangel an plausiblen Erklärungen und ein Interview der Süddeutschen Zeitung mit dem Kapitän des spanischen Fischereischiffs, der versicherte, sein AIS nicht abgeschaltet zu haben, befeuerten die Diskusion zusätzlich. Daher hier anstelle von weiteren Mutmaßungen die Fakten – und eine Stellungnahme des Soloskippers, die er heute Nachmittag in einer Pressekonferenz gab.

1. Die Frage nach den Kollisionsfolgen
Bei dem Fischkutter handelt es sich um die "Hermanos Busto", ein Stahlschiff von 29,35 Meter Länge und 8 Meter Breite. Es befand sich mitten auf der Biskaya und machte nur 1 bis 2 Knoten Fahrt, da die Mannschaft zum Zeitpunkt der Havarie dabei war, den Fang einzuholen.

Während Boris Herrmanns "Seaexplorer" beim Aufprall den Bugspriet verlor, an Steuerbord einen Riss im Rumpf, ein gebrochenes Foil und ein gerissenes Oberwant davontrug, blieb es am Kutter offenbar bei leichten Schäden. "Ich habe heute die Reederei angerufen und gefragt, ob alles okay sei", sagt Herrmann. Am Schiff, einem Leinenfischer, habe es nur ein paar Abplatzer am Lack der Bordwand gegeben. Tatsächlich erscheint unmöglich, dass ein nicht einmal 8 Tonnen wiegender Imoca 60 einen für alle Wetter gebauten Hochseekutter in Mitleidenschaft ziehen sollte, der 220 Tonnen verdrängt. "Alles Weitere klärt jetzt meine Versicherung", so Herrmann.

2. Die Frage der Schuld
Nach den internationalen Kollisionsverhütungsregeln trägt der Hamburger fraglos die Verantwortung für den Vorfall. Fischereifahrzeuge im Einsatz haben Vorfahrt vor der Sportschifffahrt, da sie manövrierbehindert sind, wenn sie wie im Fall der "Hermanos Busto" den Fang einholen.

In der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag herrschte in der Biskaja zudem schlechte Sicht. Wegen einer Warmfront kondensierte die Luftfeuchtigkeit zu einem feinen Nebel. Boris Herrmann stellte in der Pressekonferenz klar, dass er den Fischern keinen Vorwurf machen könne, das verbiete schon die Solidarität unter Seeleuten. Ihre Decksbeleuchtung und die diesige Luft hätten die Sicht der Fischer auf den unmittelbaren Nahbereich beschränkt. Sie hätten ihn mit bloßen Augen unmöglich rechtzeitig sehen können.

Seine ursprüngliche Vermutung, dass das Schiff ohne AIS gefahren sei, revidierte er auf Nachfrage. "Ich habe das in der Hektik der Situation für die naheliegendste Erklärung gehalten", so der 39-Jährige. Sein Team war bei einer ersten Recherche über MarineTraffic zu der Überzeugung gelangt, dass die "Hermanos Busto" zu dem Zeitpunkt kein AIS-Signal ausgesendet hatte.

Dem widersprach jedoch der Kapitän des Kutters im Interview mit der "Süddeutschen Zeitung": "Unser AIS war eingeschaltet. Zu jedem Zeitpunkt. Das garantiere ich. Erstens sind wir dazu verpflichtet, zweitens lässt es sich sehr einfach überprüfen, weil: Das wird automatisch aufgezeichnet."

3. Die Frage der Technik
Boris Herrmanns "Seaexplorer – Yacht Club de Monaco" hat noch zwei weitere Systeme zur Kollisionsvermeidung an Bord: ein Breitband-Radar und das neue Detektionssystem Oscar, das per Video- und Infrarot-Kameras die Meeresoberfläche voraus absucht.

In seinen ersten Stellungnahmen zu der Kollision hatte der Skipper angegeben, dass auch sie keinen Alarm gegeben hätten. Zuvor habe er in der Nacht ein gutes Dutzend Schiffsbegegnungen gehabt und dabei stets geprüft, ob sein Radar korrekt arbeitet. Das sei der Fall gewesen, weshalb er auch sicher gewesen sei, sich noch einmal kurz schlafen legen zu können. Oscar dagegen habe nicht mehr zuverlässig funktioniert: "Da muss es eine Trübung der Optik gegeben haben."

Mindestens das Radar stand ihm demnach zur Verfügung. Und auch sein AIS zeigte noch Schiffe in der Umgebung an; lediglich die Sendefunktion war schon im Südmeer ausgefallen. Trifft also die Aussage des Kutter-Kapitäns zu, dass das AIS der "Hermanos Busto" aktiv war, sollte Boris Herrmann zweifach vor der drohenden Kollision alarmiert worden sein.

Er selbst gab an, keinen Signalton zu erinnern. Er habe den Unfall erst bemerkt, als er im Cockpit stehend eine stählerne Bordwand über sich sah. Ein Blackout?

Das ist zumindest nach bisherigem Kenntnisstand die plausibelste Erklärung. Erschöpft von drei Monaten Solosegelns in überwiegend sehr hartem Wetter, ausgelaugt nach der Passage des stark befahrenen Cap Finisterre in der Nacht zuvor, ist durchaus denkbar, dass ihn die Alarme zu spät haben hochschrecken lassen, zumal er mit hoher Geschwindigkeit unterwegs war, ca. 17 Knoten kurz vor dem Aufprall.

Alex Thomson war es bei der Route du Rhum vor drei Jahren ähnlich ergangen, als er souverän in Führung liegend seinen Wecker nicht hörte und auf die Klippen von Guadeloupe krachte.

4. Die Grundsatzfrage
Ist der Fall ein Beleg für die generelle Unverantwortbarkeit des Einhandsegelns? Hat Boris Herrmann fahrlässig oder gar grob fahrlässig gehandelt, als er sich schlafen legte?

Darüber lässt sich fraglos streiten. Gern zitiert wird dann der schon eingangs erwähnte Paragraph 5 der KVR: "Jedes Fahrzeug muss jederzeit durch Sehen und Hören sowie durch jedes andere verfügbare Mittel, das den gegebenen Umständen und Bedingungen entspricht, gehörigen Ausguck halten, der einen vollständigen Überblick über die Lage und die Möglichkeit der Gefahr eines Zusammenstoßes gibt."

Streng ausgelegt, ist ein Imoca 60 an sich kaum vereinbar mit dieser Regel. Denn die Geschwindigkeiten sind sehr hoch, die Sicht nach vorn extrem durch Gischt und überkommende Wassermassen eingeschränkt. Die Plexiglasscheiben im Deckshaus beschlagen leicht, die Eigenblendung durch die Instrumente ist relativ hoch. Man kann diese Boote nachts tatsächlich nur nach Instrumenten steuern. Und sie sind physisch extrem fordernd, umso mehr, wenn der Skipper schon 79 Tage in den Seebeinen hat.

Gleichwohl hat die Technik immense Fortschritte gebracht. Die neueste Generation der Radargeräte ist schlicht umwerfend gut, AIS ein De-facto-Standard, und auch Oscar stellt eine vielversprechende Innovation dar. Wer diese Neuerungen nicht kennt, diskutiert auf dem Stand von gestern.

Es mangelt schlicht nicht an Assistenzsystemen, ebensowenig wie am Sicherheitsbewusstsein der Klasse oder der Skipper. Diese Form des Segelsports pauschal für unverantwortlich zu erklären wäre, als würde man Klettern im hochalpinen Bereich wegen der Risiken verbieten. Selbst Fahrradfahren in der Innenstadt ließe sich mit Hinweis auf das latente Unfallrisiko leicht infrage stellen.

5. Die Frage der Haftung
Die Versicherer haben das Thema aus den oben genannten Gründen längst abgehakt. Freizeitsegler, die einhand auf Törn gehen, müssen nicht um die Haftung ihrer Assekuranz bangen, wenn sie nachts kurz schlafen gehen, nachdem sie zuvor die Lage gepeilt haben.

Das gilt umso mehr für die Policen von Imoca 60. Diese sind ohnehin eigens auf den Verwendungszweck der Boote hin kalkuliert – und entsprechend kostspielig. Deshalb ist es müßig, erneut eine Debatte zu führen, die schon Wilfried Erdmann einst um die Anerkennung der Ausnahmeleistung bei seiner ersten Weltumsegelung brachte.

Einhandsegeln ist intensiv, anstrengend, fordernd – aber zumindest in der Rechtssprechung und in der Versicherungswirtschaft nicht per se grob fahrlässig.