The Ocean RaceWie müde die Boote nach der Königsetappe sind

Jochen Rieker

 · 05.04.2023

Boris Herrmann und Will Harris gestern Nachmittag bei der Lagebesprechung mit dem Technik-Team von Malizia
Foto: YACHT/J. Rieker

Die Segler haben nach fast 35 Tagen im Südmeer Pause beim The Ocean Race. Ihre Techniker und Ingenieure müssen dagegen ellenlange Prüf- und Reparaturlisten abarbeiten. Anders als in Kapstadt und Alicante gibt es für Boris Herrmanns Team Malizia diesmal keinen Stress. Lagebericht von der Team-Basis in Itajaí

Wer in den vergangenen Tagen morgens durch den Ocean Live Park von Itajaí schlenderte, konnte einen Etappenhafen im Ausnahmezustand erleben. Bis gestern lagen erst drei der fünf teilnehmenden Yachten hier, zwei an Land, eine im Wasser. In den Zelten der Teams herrschte eine fast irritierende Stille. Nur ab und an kreischte eine Trennsäge oder dröhnte ein Sauger, um feinen Kohlefaserstaub zu schlucken, bevor er über den von der Sonne weichgekochten Asphalt weht.

Hektik, Flüche, Nachtschichten – nicht hier, nicht jetzt. Noch nicht.

Mit Ruhe und Konzentration gehen die Techniker ihre ellenlangen Prüf- und Wartungslisten durch, die mehrere Hundert Positionen umfassen. Darauf finden sich scheinbar marginale Punkte wie das Polieren der Kausch am Großsegelkopf, an der das Fall angeschlagen wird, bis hin zu Aufgaben, die tagelang brauchen – wie die Kontrolle der Kielhydraulik und -lagerung.

Schlimme Schäden aber sind bisher nicht aufgetaucht. Und das ist nach fast 15.000 Seemeilen durchs mitunter brutal tobende Südmeer eine echte Überraschung. Denn noch nie wurden Imocas der neuesten Generation mit vier Mann Crew hier durchgeprügelt.

Gut, die französisch-deutsche „Guyot Environnement – Team Europe“ musste die dritte Etappe aufgeben und zurück nach Kapstadt laufen, nachdem der Rumpfboden im Seegang nachgegeben hatte. Doch diese Reparatur erfolgte noch in Südafrika, weshalb das Boot von 2015 – die ehemalige „Hugo Boss“ von Alex Thomson – inzwischen wieder wie neu am Schwimmsteg liegt. Sie erreichte transatlantik von Ost nach West als Erste Itajaí.

Aber auch die deutsche „Malizia – Seaexplorer“ und die Schweizer „Holcim – PRB“, welche die Königsetappe regulär an Position eins und zwei beendeten, sind weitgehend unversehrt in Itajaí angekommen. Die wirklich angezählten Boote queren erst in den nächsten Stunden die Ziellinie: “11th Hour Racing” und “Biotherm” fehlen auf die anderen drei volle Tage. Dabei hätten sie dringend mehr Zeit für den Refit nötig.

Vor allem Paul Meilhats “Biotherm” ist eine Großbaustelle: Das Steuerbord-Foil hat schon in Kapstadt einen Riss gezeigt, der Backbordflügel wurde bei einer Kollision mit Treibgut schwer beschädigt, der Foilkasten ist ebenfalls gebrochen. Zudem gab es in einem Stringer Strukturschäden, die von der Crew nur notdürftig laminiert wurden. Der Traveller und die Großschotwagen waren mehrfach Quell von Ärger. Der Autopilot streikte, die Windsensoren ebenfalls. Und diese Liste ist noch unvollständig.

Bei 11th Hour haben zwei von drei Ruderblättern Risse im Faserverbund; das Großsegel flog mehrmals aus den Lieken und wird wahrscheinlich getauscht werden müssen, weil es offenbar den Belastungen nicht gewachsen ist. Die elektrische Pumpe für die Kielhydraulik fiel schon kurz nach Kapstadt aus, sodass die Crew wochenlang den Kiel von Hand zur Seite schwenken musste.

Während die Nachzügler also zu Großbaustellen werden, sobald die Leinen fest sind, gehen die Dinge in Boris Herrmanns Team erstmals nach Alicante und Kapstadt einen geordneten Gang. “Wir haben den längsten Stopp und absehbar die wenigste Arbeit”, sagte Jesse Naimark-Rowse, einer der leitenden Ingenieure im deutschen Team, gegenüber der YACHT gestern.

Ein kleiner Vorbehalt gilt einstweilen noch, weil die NDT-Überprüfung am frühen Abend noch nicht ganz abgeschlossen war. NDT steht für “Non-Destructive Testing”, also zerstörungsfreie Tests. Bei Kohlefaser-Bauteilen wie Foils, Mast, Baum und Rumpf erfolgen diese mittels Ultraschall. Edelstahl- und Titan-Teile werden mit Hilfe eines Farbeindringtests auf Oberflächenfehler wie Risse, Porosität, Quetschungen oder andere Anomalien geprüft.

Bisher blieb mit Ausnahme von ein, zwei kleinen Schäden alles unauffällig, was Boris Herrmann fast genauso glücklich macht wie der Etappensieg: “Es ist schon toll, hier mit einem intakten Boot anzukommen, das keine strukturellen Probleme aufweist”, sagte er am Montagabend, nachdem das Boot an Land stand und Mast und Foils bereits demontiert waren.

Es sei eine weitere Bestätigung dafür, dass das “Konzept aufgeht”, das er aus seinen Erfahrungen bei der Vendee Globe 2021 zusammen mit den Konstrukteuren von VPLP entwickelt hat – nämlich ein robustes Schiff zu bauen, das auch in schwerer See sicher zu handhaben ist.

Um es komplett zu validieren, bleibt der Hamburger eigens länger in Itajaí als der Rest der Crew, die schon Landurlaub hat. Er bespricht sich mehrfach mit den Technikern. Das Segelteam hatte unterwegs schon Änderungswünsche und Prüfpositionen notiert für den jetzt anstehenden Refit. Die Ingenieure, Rigger, Elektronik- und Kompositexperten im Team folgen aber auch eigenen Checklisten.

Insbesondere dieser Zwischenstopp liefert die absehbar wichtigsten Erkenntnisse für die Vendée Globe 2024/25. Denn er führte fast ausschließlich durch den Southern Ocean. Was hier erhebliche Trag- oder Verschleißspuren zeigt, wird kaum unbeschadet über die doppelte Distanz halten.

Wie detailliert es dabei zugeht, auch in einem Team dieser Größe und mit derart großem Erfahrungswissen, zeigte sich gestern, als Boris im Kreis der führenden Techniker die Ersatzteilliste und den Inhalt der Werkzeugtasche durchging. Als Tauschposition war dort ein akkubetriebenes Multifunktionsgerät aufgeführt, mit dem die Segler bohren, trennen oder polieren können. Marine Villard, die Koordinatorin des Tech-Teams, mochte sich damit nicht zufriedengeben.

“Warum braucht ihr das neu?”, fragte sie den Skipper.

“Es ist hinüber”, sagte Boris, “einfach kaputt.”

“Und was garantiert uns dann, dass das nächste Gerät hält”, fragte Marine zurück. “Vielleicht brauchen wir ja ein anderes Modell, das länger hält.”

Dieses Hinterfragen von jeder kleinsten Eventualität ist es, was später einmal den entscheidenden Unterschied machen könnte. Die Detailliertheit, mit der Team Malizia zu Werke geht, ist schlicht überwältigend. Nichts, aber wirklich gar nichts, was vorstellbar ist, wird hier dem Zufall überlassen oder dem “Wird-schon-hinhauen-Prinzip”.

Deshalb kam als Erstes die gesamte Ausrüstung von Bord – nicht nur zur Überprüfung auf Vollständigkeit und zum Reinigen von Salzwasser. Alles wurde gewogen, um zu sehen, wo für kommende Etappen eventuell Gewicht eingespart werden kann.

Auch die Mastreparatur von Will Harris zu Beginn der Königsetappe wird in diesen Tagen noch mal neu gemacht. Sie ist zwar bemerkenswert gut gelungen und könnte theoretisch bis zum Ende von The Ocean Race bleiben. Aber das Risiko, dass überschüssiges Harz im Inneren des Carbonmasts Kabel oder außen die Fallen aufreibt, ist zu groß. Außerdem lassen sich sicher ein paar Hundert Gramm sparen, wenn der Spalt sauber unter Vakuum laminiert wird.

So machte sich Komposit-Experte Andreas Berg zusammen mit einem Kollegen gleich nach Ankunft in Itajaí ans Werk. Zunächst mussten die 18 Lagen Kohlefasergelege weggeschliffen werden, ohne dabei das im Autoklaven gebackene Original-Laminat des Riggs zu beschädigen.

Als das geschafft war, laminierten die findigen Profis weiter unten am Profil eine Art Schiene, die nach dem Aushärten von innen gegen die Schadensstelle geklebt wird, um eine homogene Oberfläche herstellen und später von außen unter Vakuum laminieren zu können. Am Ende wird der Mast so fest sein wie ursprünglich. Eine Reparatur, die insgesamt zwei bis drei Tage dauert – und nur ein Punkt ist auf der Liste des neuen technischen Direktors, Pierre-François Dargnies, den alle bei Malizia nur “Pifou” nennen.

Am Mast allein arbeiten mehrere Gewerke: Die Rigger kontrollieren alle Fallen und Strecker, die durch ein Loch im Titan-Mastfuß laufen und ins Cockpit umgelenkt werden. Was auffälligen Abrieb zeigt, wird im Zweifel ersetzt. Den Fallenschlössern widmen sie besondere Aufmerksamkeit, nachdem der Haken des Code-Zero-Schlosses am Masttopp gebrochen war, was erst zu dem Folgeschaden im Rigg führte. Alle Winschen werden zerlegt und geprüft, alle Klemmen. Aber auch das Elektronikteam ist am Werk: Sämtliche Datenkabel werden gezogen, durchgemessen und wo nötig ausgetauscht.

Es ist ein XXXXL-Wartungsdienst, der da ansteht. Und man bekommt als Beobachter prompt ein schlechtes Gewissen, wenn man an sein eigenes Schiff denkt und die Nonchalance, die man mitunter walten lässt, wenn im Frühjahr die Zeit vor dem Kranen zu knapp wird. Hier werden keine Abkürzungen genommen.

Und wenn die Arbeitsliste zu lang ist für die verbleibenden gut zwei Wochen bis zum erneuten Einwassern, dann bleiben die Techniker einfach länger. Gerade kleine Teams mit großen Aufgaben wie “Biotherm” werden wohl etliche Nachtschichten im Flutlicht des Race Village von Itajaí schieben müssen.

Im folgenden Video führt Malizia-Direktorin Holly Cova ab Minute 07:30 durch die Basis des deutschen Teams und durchs Boot und zeigt ausschnitthaft, welche Arbeiten in diesen Tagen anstehen: