Jochen Rieker
· 07.01.2023
Sonntagnachmittag hat das Schrauben, Laminieren, Riggen, Packen und Klarmachen zumindest fürs Erste ein Ende. Um 14:05 Uhr ertönt das Vorbereitungssignal für die Flotte der VO65, die in der Ocean-Race-Sprint-Wertung nur drei von sieben Etappen segeln. Um 16:05 Uhr folgen dann die Hauptakteure auf ihren Imoca 60, die die gesamte Strecke um die Welt bestreiten
Wir haben für Sie die wichtigsten Hintergrundinformationen zu den beiden Klassen, zu den Booten, Crews und zum Reglement der ältesten und anspruchsvollsten Round-the-World-Regatta vor Ort zusammengetragen. Hier sind sie!
Im Prinzip sind sie unerheblich, weil die hier erkämpften Platzierungen und Punkte nicht auf die Ergebnisse in den Hochsee-Etappen angerechnet werden. Man könnte sie also als reines Schaulaufen abtun, wichtig für die Sponsoren und deren Gäste, aber vernachlässigbar für den Gesamtsieg. Das stimmt freilich nicht ganz.
Denn bei Punktgleichheit zweier oder mehrerer Teams nach den sieben Offshore-Etappen (Kapverden, Kapstadt, Itajaí, Newport, Aarhus, Den Haag, Genua) dient die In-Port-Platzierung als „Tie Breaker“ – und kann so doch entscheidend werden.
Deshalb wäre es nachlässig, hier betont defensiv aufzutreten. Die Crews fürchten zwar die Unübersichtlichkeit auf den kurzen, nur etwa einstündigen Kursen unmittelbar vor der Küste, zumal die Imocas von unter Deck bedient und meist auch pilotiert werden. Ein Crash wäre fatal, weil er den Start zur nächsten, weit bedeutenderen Etappe kompromittieren könnte. Dennoch wird niemand aus Sicherheitsgründen hinter dem Feld herfahren, weil das auch bei den Fans und Geldgebern nicht besonders gut ankäme.
Offen gestanden: überwiegend nicht sehr gut! Mit Ausnahme von 11th Hour Racing, dem Team von US-Skipper Charlie Enright, haben alle anderen mehr damit zu tun gehabt, ihre Boote fit für die erste Atlantiketappe zu machen, als sich mit der kleinräumigen Taktik, dem „Wer macht was?“ im Manöver oder dem Wetter zu beschäftigen.
Es wäre also eine Überraschung, wenn wir am Sonntagnachmittag rasiermesserscharf getimte Starts und blitzschnelle Halsen sehen würden. Wobei sie nicht gänzlich ausgeschlossen sind, weil die Crews alle über extrem viel Erfahrung verfügen, sei es in olympischen Klassen oder/und bei Hochseeregatten.
Mit allem Vorbehalt hier eine Einstufung nach Reife- und Vorbereitungsgrad, von oben nach unten sortiert:
„11th Hour Racing“
Schon seit dem Jahreswechsel race ready, hat nach „Guyot Environnement – Team Europe“ die meisten Meilen gesegelt, hatte genug Zeit für die Optimierung kleinerer Maleschen, vor allem aber der Segel und der Autopilot-Anlage. Sie lag als erster Imoca am Regatta-Steg. Schwer zu toppen. Wie schnell das Verdier-Design mit den riesigen Foils ist – noch unklar.
„Holcim – PRB“
Von den neuen Imocas einer der erprobtesten und auch in Alicante früh in Form. Wie Kevin Escoffier bei der Route du Rhum (Platz 4) bewiesen hat, ist das Boot schnell und bisher zuverlässig. Das Verdier-Design ist extrem flach, leicht, das Team gut finanziert, der Skipper der technisch versierteste im Feld, mit Figaro-gestählter junger Crew.
„Guyot Environnement -Team Europe“
Die ehemalige und sehr erfolgreiche 2016er „Hugo Boss“ gilt selbst Boris Herrmann als Podiumskandidat. Diente gut ein Jahr lang 11th Hour als Trainings- und Entwicklungsplattform, wurde beständig in Top-Form gehalten. Kann von Tag 1 im The Ocean Race gepusht werden, also gleich morgen. Zumal die Crew um Benjamin Dutreux und Robert Stanjek am längsten zusammen gesegelt ist, zunächst auf der deutschen „Einstein“, mit der sie das Ocean Race Europe gewann, seit Sommer auf „Guyot“. Und es sind Top-Olympioniken an Bord! Manko: Dutreux verfügt nur über ein begrenztes Budget, muss und will beim Ocean Race nicht seinen Start bei der Vendée Globe 2024 gefährden, der über allem steht.
„Malizia – Seaexplorer“
Boris Herrmanns Neubau ist nach dem Bruch seiner Original-Foils und dem Last-minute-Umbau auf Sam-Manuard-Flügel schwer einzuschätzen. Das Speed-Potenzial ist zwar erstaunlich; am Samstagnachmittag, beim zweiten Testschlag, ballerte das Boot mit Heimathafen Hamburg mit rund 28 Knoten übers Mittelmeer. Aber der Grund für die Delamination der ursprünglichen Foils ist noch nicht zweifelsfrei geklärt, weshalb die Crew eher konservativ ins Rennen gehen und sich erst nach und nach steigern wird.
Zwei Achillesfersen bleiben außer dem mangelnden Wissen über die Belastungsgrenzen der neuen Foils: Bei Leichtwind sorgt der nicht voll einziehbare Schaft der sichelförmigen Flügel für mehr Widerstand. Und im Bereich zwischen 12 und 15 Knoten Wind kommt „Malizia“ wohl etwas später aus dem Wasser. Das könnte Nachteile im Mittelmeer und in den Rossbreiten mit sich bringen.
Im In-Port Race morgen sieht es aber nach mehr Wind aus, und mit Nico Lunven ist einer der gewieftesten Taktiker an Bord. Außerdem schiebt das Team gerade Überstunden: Während alle anderen Boote entweder im Hafen blieben oder um 18 Uhr wieder am Dock waren, war „Malizia – Seaexplorer“ bis 21 Uhr auf See. Das spricht dafür, dass die Crew um Boris Herrmann nichts unversucht lassen will, sich bestmöglich zu präsentieren. Lassen wir uns überraschen!
„Biotherm“
An letzter Position steht das Boot von Paul Meilhat nur, weil es das jüngste unter den Neubauten am Start ist und weil es bis zum späten Samstagnachmittag nicht ein einziges Mal seit der Ankunft in Alicante unter Segeln war. Der Rumpf hatte bei der Route du Rhum und der Rücküberführung strukturell Schaden genommen; nach YACHT-Informationen aus dem Umfeld des Teams musste er mit drei nachträglich einlaminierten Ringspanten zusätzlich ausgesteift werden.
Auch sonst arbeiteten die Techniker und Teammitglieder offenbar die längsten To-do-Listen ab. Gestern Abend fehlten noch mehrere Geber; die Kabel hingen lose am Heck. Die Ruderschäfte wurden nachgeschliffen. Ist „Biotherm“ bereit fürs erste, wenn auch Kurzstreckenrennen? Wir werden es erst morgen wissen.
Meilhat, der Damien Seguin als Co-Skipper verpflichtet hat, einen Olympia-Medaillengewinner und Vendée-Teilnehmer, hat eine starke Crew, sah in all dem Trubel stets gut gelaunt und aufgeräumt aus, und es scheint nicht am Budget zu mangeln: Er wird wie Boris Herrmann, Kevin Escoffier und Charlie Enright mit neuen Segeln im Wert von weit jenseits 100.000 Euro (pro Boot!) antreten.
Nach dem Reglement von The Ocean Race muss auf jedem Imoca mindestens eines der vier Crewmitglieder eine Frau sein. Alle Teams haben mindestens zwei weibliche Profis verpflichtet, um im Fall einer Verletzung sofort Ersatz zu haben. Bei den In-Port-Rennen darf aber nur die Frau mitsegeln, die entweder die vorige Etappe bestritten hat oder bei der folgenden Hochsee-Etappe an Bord sein wird.
Da es kein „Vorher“ gibt vor dem Start zur ersten Etappe am 15. Januar, determiniert die Besetzung beim morgigen Kurzstrecken-Auftakt auch die Crew-Wahl für Leg 1 bis zu den Kapverden.
Bei Team Malizia kommt wohl Rosalin Kuiper zum Einsatz, die auch für die längste Etappe von Kapstadt nach Itajaí gesetzt ist, sollte nichts dazwischenkommen.
Bei „Holcim – PRB“ ist morgen und am kommenden Sonntag Abby Ehler Teil der Crew. Sie wird erst in Mindelo von Sanni Beucke ersetzt, die auch Etappe 3 bestreiten wird.
Bei Team Guyot spricht vieles, nein: so gut wie alles für die routinierte Annie Lush, die schon von Beginn an zur Stamm-Crew zählt. Allerdings gehört auch Tamara Echegoyen zum Kader, ihrerseits mit Gold dekorierte Olympionikin. Schwere Wahl, superstarke Frauen!
Um uns nicht in Kaffeesatzleserei zu versuchen, bleiben wir in diesem Punkt besser strikt bei den Fakten – die selbstverständlich auch die Ocean-Race-Teilnehmer vor und zurück beten können. Danach werden bis Itajaí/Brasilien, dem Ziel der dritten Etappe, nicht einmal die Hälfte der Punkte vergeben sein (die dritte Etappe zählt wegen eines Wertungstores gewissermaßen doppelt). Grob gerechnet liegen aber zwei Drittel der Strecke hinter den Crews, darunter die besonders entbehrungsreiche Southern-Ocean-Etappe, die mit 12.750 Seemeilen längste in der 50-jährigen Geschichte von The Ocean Race.
Wer im Süden ohne Rücksicht auf Verluste segelt, wird seine Siegchancen im schlimmsten Fall begraben, zumindest aber partiell verschütten. Es geht also darum, eine schlaue Balance zu halten. Und nicht wenige Teams favorisieren klar eine Strategie, die an Boris Herrmanns Vendée Globe 2020/21 erinnert: Fuß vom Gas im Südmeer, sicher ums Kap Hoorn, danach erst Attacke.
Manche Beobachter interpretieren die TOR-Regeln sogar so, dass die Veranstalter bei aller Begeisterung für die Aussicht, Imocas erstmals mit Crew voll am Limit bewegt zu sehen, im Southern Ocean bewusst eine Art Sicherung eingebaut haben, weil die folgenden Etappen mehr Gewicht fürs Gesamtergebnis haben. Das spricht für ein eher vorsichtiges Taktieren bis Brasilien.
Möglich ist auch folgende Strategie: auf allen langen Etappen zumindest in Schlagdistanz zu den Führenden zu bleiben, ohne allzu große Risiken einzugehen, und dann jeweils kurz vor dem jeweils nächsten Zielhafen alles zu geben. Bricht dann etwas, verliert man weniger Zeit bis zum Refit- und Reparaturstopp. Womit wir beim nächsten Thema wären …
Obwohl es wegen der Nonstop-Southern-Ocean-Etappe bis auf Kapstadt und Itajaí keinen weiteren Halt auf der südlichen Hemisphäre gibt, ist der Aufwand, den die Teams betreiben müssen, um im Rennen und in Form zu bleiben, enorm. Das kratzt auch erheblich am selbst gewählten Anspruch der Veranstalter in Sachen Nachhaltigkeit.
Alle fünf Imoca-Syndikate verschiffen wechselseitig je zwei komplette Team-Basen, bestehend aus Werkstatt-Containern, Ersatz- und Verschleißteilen um die Welt. Während in Alicante in einer Woche abgebaut wird, sind die gleichen Utensilien bereits auf dem Weg nach Kapstadt. Das Alicante-Equipment, in der Regel drei bis vier 20- oder gar 40-Fuß-Container, geht derweil per Schiff nach Itajaí, während das Kapstadt-Set nach dem Restart weiter nach Newport reist. Ein gigantisches Unterfangen, das nicht nur Geld, sondern auch Personal bindet und eine ausgefeilte Logistik erfordert. Wohl dem, der wie Team Malizia auf Reedereien als Hauptsponsoren zurückgreifen kann, die über die Seaexplorer-Plattform zudem CO2-optimierte Schiffe und Routen zur Verfügung stellen können.
In Kapstadt und besonders in Itajaí haben die Teams längere Stopps für nötige Reparaturen und Refits. In Kapstadt sind es mehr als zwei Wochen, falls die Boote ohne größere Schäden und damit zügig ankommen, in Itajaí gut drei Wochen. Wer auf Nummer sicher gehen und für alle Eventualitäten gewappnet sein will, wird vor Ort 10 bis 15 Bootsbauer, Rigger und Elektronikspezialisten brauchen, und noch einmal so viel an Support-Crew. Selbst ein eher knapp finanziertes Projekt wie „Guyot Environnement – Team Europe“ ist inzwischen auf 40 Mitarbeiter angewachsen und wird in etwa der Stärke um die Erde jetten.
Spannend ist vor allem der allererste Stopp in Mindelo auf den Kapverden. Der ist nicht nur wenige Tage kurz, sondern verbietet die Unterstützung durch die Shore-Crews. Gibt es also Schäden zu beheben, dann heißt es Ärmel hoch für die Segler. Immerhin können sie auf gut sortiertes Werkzeug und Teile zurückgreifen. Diese werden vom Veranstalter in speziellen Air-Cargo-Boxen an den Etappenhafen geflogen. Da nur fünf Imocas ins Rennen gehen, so wenig wie noch nie in der 50-jährigen Geschichte des Rennens, wäre es kaum zu verschmerzen, vorzeitig ein Team zu verlieren, nur weil die Unterstützung fehlt.
Das Training heute hat gezeigt, wie krass der Geschwindigkeitsvorsprung der Imocas inzwischen ist. Die neueste Generation der Foiler kann aus 18 bis 22 Knoten Wind bis zu 30 Knoten Fahrt zaubern. Die VO65 dagegen schafften so eben 18 Knoten Speed, meist nur um die 15 bis 16 Knoten. Dafür werden sie am Wind stärker segeln. So viel zu den Klassenunterschieden, die aber irrelevant sind, weil beide Bootstypen in eigenen Starts antreten, zwei Stunden versetzt. Da ist es müßig, Vergleiche zu ziehen.
Aber selbst innerhalb der VO65 wird es absehbar nicht mehr die Intensität geben, die wir von den vergangenen beiden Auflagen des Ocean Race kennen, wo die Boote nach Tausenden von Meilen oft im Abstand weniger Minuten ins Ziel kamen. Diese Ära ist vorbei.
Denn nicht mehr der Veranstalter stellt und refittet die Yachten wie zuvor. Die Teams selbst sind für die Technik und Ausrüstung verantwortlich. Und da klaffen eklatante Lücken – im Knowhow, im Budget, in eigentlich jedem Aspekt. Ernsthaft kann man nicht mehr von einer Einheitsklasse sprechen.
An der Spitze der Entwicklung steht ohne Zweifel Team „Wind Whisper“. Die Polen haben ihren bisherigen VO65 gegen die topgewartete ehemalige „Akzo Nobel“ getauscht und mit Liz Wardley die bei Weitem fähigste Bootsfrau geholt. Kein anderes Team präsentiert sich derart professionell vorbereitet, inklusive eines komplett neuen Satzes Segel.
Daneben oder knapp dahinter rangieren das portugiesische Mirpuri Foundation Racing Team, das auf der ehemaligen Siegeryacht „Dongfeng“ unter deren neuem Namen „Racing for the Planet“ antritt, und das junge holländische „Team Jajo“, das den achtmaligen Ocean-Race-Teilnehmer Bouwe Bekking verpflichtet hat, der die VO65 wie kaum ein anderer kennt und schnell machen kann.
Am Ende des sechs Boote umfassenden Feldes segelt absehbar das vormals österreichische Team „Sisi“, das im letzten Moment Unterstützung von Genua bekommen hat, dem Zielhafen des Ocean Race. Die Crew kam auch sehr kurzfristig zusammen, ist in der Formation noch nie zuvor Regatten gesegelt. Und das Boot ist in eher prekärem Zustand. Ungeschützt vor der Sonne liegt auf dem Baum noch ein Uralt-Groß von „Team Vestas“ aufgetucht. Der Kiel ließ sich Mitte der Woche nicht zur Seite neigen, und heute vereitelte ein Problem am Motor den letztmöglichen Testschlag vor dem In-Port Race.
So stark gespreizt zeigt sich die VO65-Flotte, dass hochkarätiger Offshore-Sport kaum zu erwarten sein wird. Bezeichnend: Die Boote dürfen lediglich in drei kürzeren Etappen mitsegeln. Das liegt wohl an den von den Veranstaltern geforderten Mindestumfängen für Refits. Nur unter der Maßgabe, dass sie erfüllt werden, hätten die Teams um die Welt segeln dürfen. Dafür reichte aber nicht einmal bei der Hälfte des Feldes das Geld. Stattdessen werden die meisten VO65 nach Etappe 1 in die Karibik überführt, in Kojencharter, um dort für zahlende Gäste die Caribbean 600 und andere Winterregatten zu segeln. Eine Flotte deutlich jenseits ihrer einstigen Glanzzeit. Schade!
Noch ist nicht ganz klar, ob das Präludium morgen frei verfügbar sein wird oder nur für Abonnenten von Europsport/Discovery +. Der Stream soll nach YACHT-Informationen zumindest zeitversetzt auch auf Youtube ausgespielt werden. Wer seinen Standort über ein VPN verlegen oder verschleiern kann, sollte auf jeden Fall Zugriff haben.
Zu den TV- und Streaming-Informationen für The Ocean Race geht’s hier (bitte klicken!).