The Ocean RaceWarum die nächste Etappe so anspruchsvoll wird

Jochen Rieker

 · 22.04.2023

The Ocean Race: Warum die nächste Etappe so anspruchsvoll wirdFoto: The Ocean Race/Sailing Energy
Segelt Kevin Escoffier mit “Holcim – PRB” wieder vorneweg? Es ist ein mögliches Szenario. Aber auch andere Teams haben Siegpotenzial auf Etappe vier

Von Itajaí nach Newport sind es nur rund 5.500 Seemeilen – keine große Sache eigentlich nach der Monsteretappe durchs Südmeer, auf der die Imoca-Crews fast 15.000 Meilen loggten. Aber auch Etappe vier hat es in sich! Wir sagen, warum

Mehr als die Hälfte der Gesamtstrecke von The Ocean Race liegt bereits im Kielwasser der Yachten, doch es sind erst 44 Prozent der Punkte vergeben. Das macht deutlich, warum es jetzt mehr denn je auf gute Platzierungen ankommt. Und auch wenn die vierte Etappe, die am Sonntagabend unserer Zeit startet, mit maximal fünf Punkten nur einfach zählt, werden die Teams sich nichts schenken.

Auf ihrer Rückkehr in die nördliche Hemisphäre segeln sie über 5.550 Seemeilen von Itajaí nach Newport, Rhode Island, an der Ostküste der Vereinigten Staaten. Es ist die letzte große Süd-Nord-Passage des Rennens, und sie markiert auch einen Jahreszeitenwechsel: Die Crews werden Brasilien im Herbst verlassen und im Frühjahr in den USA ankommen.

Hochdruck und Leichtwind-Poker schon beim Start

Auf ihrem Weg nach Norden werden sie versuchen, den Auswirkungen der südlich verlaufenden brasilianischen Strömung auszuweichen und den leichten Winden des als St.-Helena-Hoch bekannten Wettersystems, dem sie zuletzt auf der zweiten Etappe von den Kapverden nach Südafrika begegnet sind.

Zunächst aber müssen sie sich von dem massiven Hoch lösen, das direkt über der Ostküste Brasiliens liegt und nur extrem leichten Gradientwind für die Startphase verheißt. Allenfalls am Nachmittag mag Thermik für etwas mehr Druck sorgen.

Die Annäherung an die brasilianische Stadt Recife an der nordöstlichen Ecke des Landes führt oft zu einer strategischen Spaltung der Flotte, da die Navigatoren sich entscheiden müssen, ob sie auf der Suche nach stärkeren, stabileren Winden ablandig segeln oder die kürzere, direktere Route entlang der Küste nehmen. Und das ist erst der Anfang des taktischen Spiels.

Wer löst sich am besten von den Doldrums?

Später müssen die Teams die Doldrums und den Äquator zum letzten Mal queren. Auch hier ist ein Split in der Flotte gut möglich, wie sich bereits auf Etappe zwei in Gegenrichtung gezeigt hat. Denn es geht nicht nur darum, die Schwachwindzone schnellstmöglich zu passieren, sondern auch darum, sich optimal für den nördlich davon wehenden Nordost-Passat zu positionieren.

Steht er in voller Stärke durch, könnte Boris Herrmanns “Malizia – Seaexplorer” bevorteilt sein, weil sie in frischeren Bedingungen und insbesondere bei Seegang unschlagbar zu sein scheint. Allerdings zählt sie bei Leichtwind nicht zu den Besten.

Möglich, wenn nicht sogar höchstwahrscheinlich ist, dass Skipper Will Harris, der die Position von Boris einnimmt, weil dieser planmäßig aussetzt, den großen A2-Gennaker mitnimmt. Darüber will das Team heute entscheiden, nach Sichtung der aktuellsten Wettervorhersagen. Der war auf Etappe eins und zwei nicht an Bord, was sich im Nachhinein als Nachteil auf der zweiten Etappe erwies, die in der ersten Woche extrem windarm war. Dafür muss Team Malizia ein anderes Segel an Land lassen, vermutlich den FR0 (Fractional Zero) oder die J0 (Jib Zero, eine Art überdimensionale Genua 1).

Profitiert Team Malizia im Passat?

Nach der Überquerung des Äquators gilt es, sich in die Passatwinde der nördlichen Hemisphäre einzuklinken, die die Flotte am karibischen Archipel vorbei in Richtung der Küste Floridas treiben sollen. Dabei müssen die Teams ständig auf der Hut sein, sich mit Kiel, Foils und Rudern nicht in den riesigen Sargassum-Seegrasbüscheln zu verfangen, mit denen der Kurs in den tropischen Gewässern übersät ist. Denn sie lösen sich nur schwer bis gar nicht von den Anhängen, was ein Aufstoppen und Rückwärtstreiben erforderlich macht, um sie wieder loszuwerden. Das kostet wertvolle Meilen.

Nördlich von Florida ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass mehrere Sturmsysteme vom US-amerikanischen Festland heranziehen. Außerdem müssen sich die Crews ihren Weg durch die komplexen Auswirkungen der mäandernden Warmwasserströmungen bahnen, die als Golfstrom bekannt sind. Sie richtig zu nutzen kann ein Schlüssel für den Erfolg werden.

Und dann kommt noch eine potenzielle Herausforderung, die letzte von vielen auf dieser Etappe: In der Annäherung an die Ziellinie vor dem Fort Adams State Park in Newport kann es noch mal spannend werden, wenn dort Flaute – oft begleitet von Nebel – herrscht. Dort schob sich beim vorherigen Volvo Ocean Race die Flotte in einer Leichtwindzone zusammen und stellte das Klassement auf den letzten Meilen komplett auf den Kopf. Hoffen wir, dass ein solches Martyrium, das wir ja schon vor Kapstadt gesehen haben, den Teams diesmal erspart bleibt.

Die Dauer der Etappe wird nach Hochrechnungen der Wettfahrtleitung auf etwa 17 Tage geschätzt; mit der Ankunft der ersten Boote ist also zwischen dem 9. und 11. Mai zu rechnen.

Warum der Stopp in Newport kritisch für den Erfolg in der Gesamtwertung werden kann

Newport wird anders als Kapstadt und Itajaí ein „Non-Haulout-Stop“, das heißt: Die Imocas bleiben im Wasser, die Technik-Teams haben also nur eingeschränkte Möglichkeiten, Schäden zu beheben.

Es bleibt für Reparaturen auch weniger Zeit: maximal eine Woche, dann beginnen ab 16. Mai schon wieder die ersten Pro-Am-Wettfahrten; der Restart findet am 21. Mai statt. Deshalb hängt vom Zustand der Boote und ihrer Solidität extrem viel ab.

Das gilt erst recht im Hinblick auf Etappe fünf von Newport nach Århus: Die zählt doppelt, weshalb ein Handicap in der Leistungsfähigkeit in dieser Phase von The Ocean Race besonders nachteilig wäre. Auch das ein Faktor, der für Team Malizia sprechen könnte. Aber das sind viele, zu viele Konjunktive. Konzentrieren wir uns zunächst einmal auf die vierte Etappe und wie gut die fünf Boote damit klarkommen.

Hier der aktuelle YACHT-online-Form-Guide für das Teilstück nach Newport

11th Hour Racing

Charlie Enright will es! Er hat bisher noch keine Etappe gewonnen und liegt aktuell an Platz 3, hinter Holcim und Malizia. Sein Verdier-Design ist ein Allrounder, gut für die jetzt anstehende Strecke. Seine Familie lebt in Newport. Er wird alles daransetzen, das “Heimspiel” zu gewinnen. Mit Simon Fisher hat er einen Top-Navigator an seiner Seite, mit Francesca Clapcich und Damien Foxall zwei erfahrene und vor allem frische Crewmitglieder.
Siegpotenzial auf Etappe vier: 90 Prozent

“Holcim PRB”

Kevin Escoffier segelt bisher ein schlichtweg beeindruckendes Ocean Race und war diese Woche auch bei den Pro-Am-Rennen der Maßstab. Sein Verdier-Design hat zwar im Southern Ocean etwas mehr gelitten als Malizia, mehr auch, als er in Interviews zugeben mochte, aber mit ihm ist stets zu rechnen. Ein potenzieller Nachteil könnte die umfassende Crew-Rotation sein: Der Skipper hat drei neue Leute an Bord, allesamt mit starker Vita, aber nicht alle voll vertraut mit dem Boot: Annemieke Bes (NED) und Benjamin Schwartz (FRA) segeln erstmalig auf “Holcim – PRB”, nur Fabien Delahaye (FRA) kennt die Schweizer Yacht von der Rücküberführung nach der Route du Rhum.
Siegpotenzial auf Etappe vier: 90 Prozent

Malizia Seaexplorer

Dies ist nicht die Ideal-Etappe für Boris Herrmanns Boot. Gerade in den Übergängen zwischen Wettersystemen und in den Kalmen wird sich das höhere Gewicht im Vergleich zu den anderen neuen Konstruktionen bemerkbar machen. Dafür kann die Crew im Passat maximal fahren, was den Nachteil womöglich ausgleicht oder zumindest eingrenzt. Für Team Malizia spricht fraglos die Besatzung: Skipper Will Harris, der schon auf Etappe zwei die VPLP-Konstruktion führte, brennt auf einen Erfolg. Navigator Nico Lunven ist ein Genie in seinem Fach, obendrein ein exzellenter Segler. Rosalin Kuipers Energielevel ist ohnehin Legende; sie sagte Mitte der Woche, sie sei “so bereit für das Rennen wie noch nie zuvor”. Und Christopher Pratt, der lange mit Jérémie Beyou auf “Charal” gearbeitet hat, gilt in Imoca-Kreisen als extrem erfahrener Co-Skipper. Da geht was!
Siegpotenzial auf Etappe vier: 85 Prozent

“Guyot Environnement Team Europe”

Bisher zweimal Letzte und wegen einer Delamination im Rumpf auf Etappe drei sogar DNF, konnte das französisch-deutsche Team um Skipper Benjamin Dutreux und Robert Stanjek noch nicht sein wahres Potenzial zeigen. Das soll sich jetzt ändern. Das Boot ist wegen der Zwangspause in Bestform, wenn auch noch mal etwas schwerer wegen der Verstärkung im Rumpfboden, was die Leichtwind-Performance schmälert. Aber aufgrund der langen Wasserlinie hat es im Nicht-Foil-Modus wiederum einen Vorteil, der auf dieser Etappe zum Tragen kommen wird. Die Crew blieb unverändert im Vergleich zur dritten Etappe: Neben dem Skipper und seinem deutschen Kaleu sind mit Annie Lush und Navigator Seb Simon zwei Top-Shots an Bord.
Siegpotenzial auf Etappe vier: 80 Prozent

“Biotherm”

Mit am schwersten einzuschätzen ist das Potenzial von Paul Meilhats Projekt für den Kurs von Itajaí nach Newport. Das Boot ist zwar nachweislich schnell, besonders bei flacher See und leichtem bis mittlerem Wind, aber es hat am meisten von allen im Südmeer gelitten und ist nicht auf 100 Prozent. Ähnliches lässt sich über die Crew sagen: Der Skipper ein Ass, mit dem stets zu rechnen ist. Doch er bringt wie Kevin Escoffier drei Newcomer, die noch nie auf “Biotherm” im Rennmodus unterwegs waren: Alan Roberts (GBR), einen erfahrenen Figaro-Segler, Mariana Lobato (POR), Matchrace-Weltmeisterin von 2013, und Marie Riou (FRA), Nacra-17-Weltmeisterin und mit Dongfeng 2018 Siegerin im Volvo Ocean Race.
Siegpotenzial auf Etappe vier: 80 Prozent

Wie sich an unserem Form-Guide ablesen lässt, erwarten wir erneut eine spannende Wettfahrt mit vielen Führungswechseln. Wie sagte Boris Herrmann am Donnerstag im YACHT-Interview: “Jede Etappe ist wie ein neues Rennen.” Möge das beste Team gewinnen!