The Ocean RaceTeam Holcim unter Notrigg. Wie geht’s jetzt weiter?

Jochen Rieker

 · 28.04.2023

Mit arg gestutzten Schwingen. "Holcim PRB" nutzt die Sturmfock als Behelfssegel, um so rasch wie möglich Richtung Rio zu laufen
Foto: Team Holcim/G. Schofield
Kevin Eskoffieres ”Holcim PRB” läuft unter Notrigg Richtung Rio. Aber wie dann weiter?

Nach dem Stellen eines Notriggs läuft Kevin Escoffier mit “Holcim PRB” einen Hafen in Rio de Janeiro an. Wie kann er seine Chancen auf den Gesamtsieg im The Ocean Race wahren?

Am Freitagnachmittag stand der Imoca, der bisher ein so starkes, ja dominantes Rennen gesegelt ist, nordwestlich von Cabo Frio, rund 110 Seemeilen entfernt von Rio de Janeiro. Geschwindigkeit über Grund: 2,7 bis 4 Knoten. Das jedenfalls zeigen die Tracking-Daten von Marine Traffic.

Mehr geht gerade nicht. Denn die Dieselvorräte sind begrenzt. Boris Herrmann schätzt, dass die Teams für Etappe vier den rund 200 Liter fassenden Tank nur zu etwa ein Viertel gefüllt haben; hinzu kommen weitere 40 Liter als Notvorrat in verplombten Kanistern. Bei vier bis fünf Liter Verbrauch pro Stunde und einer Geschwindigkeit unter Maschine von um die fünf Knoten reicht das nicht bis Rio de Janeiro.

AIS-Daten der havarierten “Holcim PRB” von heute Mittag. Später sackte die Geschwindigkeit auf Amwind-Kurs bis auf 2,7 kn über Grund abFoto: MarineTraffic/J. Rieker
AIS-Daten der havarierten “Holcim PRB” von heute Mittag. Später sackte die Geschwindigkeit auf Amwind-Kurs bis auf 2,7 kn über Grund ab

Daher stellte das Team gestern ein Notrigg aus dem unteren Teil des Masts, der erhalten geblieben ist, nachdem vermutlich der Toppwirbel des J2-Vorstags gebrochen und das Flügelprofil in der Folge von oben gekommen war. Dabei zerbrach der Mast in mehrere Teilstücke. Sichern konnten die Segler lediglich Deckssalinge, Großbaum und eben jenen Stummel, der jetzt die Sturmfock trägt.

Frühestens morgen, Samstagabend, wird “Holcim PRB” in Rio eintreffen. Was dann folgt, hat das Team gegenüber den Veranstaltern heute skizziert. Der Ersatzmast soll zum Boot verschifft werden. Den Transport arrangiert GAC Pindar, ein auf Sport und hier insbesondere Segelsport-Belange spezialisiertes Logistikunternehmen, das auch Partner von The Ocean Race ist und das nötigste Equipment aller Teams per Luftfracht-Container zu den Etappenhäfen bringt.

Für Holcim gibt es zwei Möglichkeiten, wovon allerdings nur eine wirklich sinnvoll erscheint:

1. Der Mast wird per Luftfracht nach Rio de Janeiro transportiert

Dies wäre die schnellste und sicherste Variante. Binnen weniger Tage wäre das Rigg in Rio. “Holcim PRB” könnte mit neuem Mast und neuem Großsegel der Flotte hinterhersegeln, den Punkt kreuzen, an dem das Team die Etappe unterbrochen hatte, und wäre so wieder in der Wertung.

Damit würde sich Kevin Escoffier einen Punkt sichern für Platz 5 in Newport und könnte mit Glück sogar am In-Port-Race teilnehmen, dessen Gesamtwertung im Falle einer Punktegleichheit mehrerer Teams am Ende über den Sieg im The Ocean Race entscheidet.

Kosten: um die 500.000 Euro für den Transport plus 300.000 Euro für den Ersatzmast. So viel Mittel parken nicht einmal die bestfinanzierten Teams “für alle Fälle”. Gut möglich also, dass Hauptsponsor Holcim, ein Schweizer Baustoff-Hersteller von Weltrang, sein Engagement kurzfristig erweitert. Es wäre ein genialer PR-Schachzug, zumal, wenn Kevin Escoffier am Ende das Rennen für sich entschiede.

2. Der Mast kommt per Frachter nach Rio

Das ist nach allen der YACHT vorliegenden Informationen und Einschätzungen zwar die günstigste, aber auch unwahrscheinlichste, weil riskanteste Option. Denn der Transportweg ist lang; allein die reine Fahrtzeit dauert rund zwei Wochen oder mehr - und es müsste gelingen, kurzfristig Platz an Deck zu finden für einen 28-Meter-Mast oder für drei Flat-Rack-Container, wie ein leitender Logistiker von Malizia-Sponsor Kühne + Nagel in Hamburg auf Nachfrage der Redaktion sagte.

Selbst wenn das Vorbereiten und Riggen des Ersatzmasts in Rio binnen eines Tages erfolgen würde, bliebe nicht genug Zeit, es rechtzeitig zum Start von Etappe fünf nach Newport zu schaffen.

In einen Imoca-Mast müssen neben Dutzenden von Fallen, Streckern und Auslöseleinen für die Fallenschlösser auch noch die Kabel für Windgeber, Topplicht, Mastkameras, Radar und Lastsensoren gezogen werden, ebenso die Laschings für Stagen und Wanten. Normalerweise zieht sich die gewissenhafte Vorbereitung eines Riggs daher über mehrere Tage. Lediglich das Stellen selbst ist unter Zeitdruck an einem halben Tag zu schaffen. Wirklich segelklar ist das Boot dann aber noch nicht.

Rechnen wir nochmal zurück: Der Start der nächsten Etappe ist am 21. Mai. Um zumindest die rudimentärsten Checks zu absolvieren, muss das Boot also spätestens am 20. Mai in Newport sein. Bleiben netto 22 Tage.

Wenn das Frachtschiff mit dem Ersatzmast 14 Tage unterwegs wäre, keine Zeit fürs Abladen bräuchte und bereits heute ablegte, blieben folglich nur acht Tage für Team Holcim, das Boot unter Segeln bis Newport zu überführen.

Das ist bei einer Entfernung von mehr als 4.000 Seemeilen unmöglich zu schaffen, denn es setzt eine Durchschnittsgeschwindigkeit von mehr als 20 Konten voraus - so schnell segeln Imocas nicht einmal im Südpolarmeer. Hier aber gilt es, noch die Kalmen zu passieren.

Selbst mit einem schnell fahrenden Cargo Express bleibt der Schiffstransport ein Vabanque-Spiel, wenn Team Holcim die so wichtige, weil doppelt gewertete Etappe von Newport nach Aarhus mitsegeln will - und das muss Kevin Escoffier, um seine Chancen auf den Gesamtsieg zu wahren.

Erstaunlich ist, wie spärlich das Team derzeit über die Rettungsmission kommuniziert. Ein Grund mag sein, dass die Gesamtlogistik sehr komplex ist, dass es für so einen Fall keine Routinen, keinen Plan B gibt. Es ist Ad-hoc-Management gefragt, und das muss zwischen Skipper, Teamleitung, Sponsor, Race Management und Transportunternehmen abgestimmt werden.

Allein die fürs Riggen und eventuell nötige Reparaturen am Boot erforderlichen Techniker aus ihrem Urlaub und von überall auf der Welt nach Rio zu bekommen, ist ein organisatorischer und finanzieller Kraftakt. Womöglich steht selbst heute noch nicht einmal fest, auf exakt welchem Weg und zu welchem Zeitpunkt der Ersatzmast verladen wird.

Gut nachvollziehbar also, dass Team Holcim erst dann das Against-all-odds-Epos anstimmt, wenn alle Eventualitäten geklärt sind. Es wird fraglos eine spannende Geschichte!

Unterdessen tut sich im eigentlichen Rennen auf Etappe vier wenig. Alle Boote segeln aktuell in weniger als zehn Meilen Distanz. “Malizia - Seaexporer” belegt weiterhin Position zwei, wenn auch nur knapp vor “Biotherm”. Die Teams haben noch etwa einen Tag Leichtwind vor sich, bevor sie die Ausläufer des Südost-Passats erreichen. Dann beginnt eine “Autobahnetappe” nach Norden, bei der nur eins zählt: Speed!