Tatjana Pokorny
· 15.06.2023
Was für ein Drama in der Bucht von Den Haag! Etwa 20 Minuten nach dem Start zur Showdown-Etappe in den Zielhafen Genua kam es zum Crash zwischen “Guyot” und “Mālama”. “Guyot”-Steuermann Ben Dutreux und seine Mannschaft übersahen nach erstem Anschein die amerikanische Imoca oder sahen sie zu spät.
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Charlie Enright und sein Team versuchten noch anzuluven, um die Kollision zu vermeiden oder ihre Auswirkungen zu verringern. Just in dem Moment aber fiel “Guyot” ab und ihr Bugspriet bohrte sich in die achtere Rumpfseite von “Mālama”. Verkeilt ineinander, rotierten beide Boote für einige Sekunden umeinander. 11th Hour Racing kam erst wieder frei, als der Bugspriet von “Guyot” abbrach.
Es ist ein Geschenk, dass niemand schwer verletzt wurde” (Jens Kuphal)
Der Crash hinterließ im hinteren Rumpfbereich der amerikanischen Rennfavoriten auf “Mālama” ein Loch von etwa einem Quadratmeter. Team Guyot, das den Crash in einer klassischen Backbord-Steuerbord-Situation verursacht hat, kehrte mit abgebrochenem Bugspriet aus eigener Kraft in den Hafen zurück. Das gelang schließlich auch 11th Hour Racing mit hart nach Steuerbord gekantetem Kiel, um jegliches Wassereindringen zu vermeiden. Beide Teams unterbrachen zunächst offiziell das Rennen. Die Aussichten auf eine Fortsetzung der Etappe schienen am Abend nach ersten Berichten gegen null zu tendieren.
Die Schäden waren nach dem Crash in der Bucht von Den Haag so groß wie die Verzweiflung an Bord der betroffenen Boote: “Mālamas” achterer Backbord-Rumpf war zerfetzt, hat ein riesiges Loch. Auch im Inneren des Bootes hat “Guyots” Bugspriet Schäden angerichtet. Dort war der Bugspriet etwas hinter dem Fenster durchs Cockpitdach gedrungen. “Es ist ein Geschenk, ein schönes Wunder, dass niemand dabei schwer verletzt wurde”, sagte Jens Kuphal YACHT online am Abend.
Charlie Enright liefen ebenso die Tränen übers Gesicht wie Jack Bouttell. An Bord von “Guyot” schlugen alle Crewmitglieder immer wieder die Hände vors Gesicht. Navigator Sébastien Simon kniete auf dem Vorschiff neben dem abgebrochenen Bugspriet mit gesenktem Kopf wie eine Symbolfigur der traurigen Kollision. Nach dem Crash eilten sofort Begleit-Boote der Wettfahrtleitung und mehrerer Teams zu den beschädigten Booten. Auch Team Malizia brach seine Live-Übertragung ab, um zum Kollisionsort zu eilen und Hilfe anzubieten.
Noch am Donnerstagabend wurde laut Wettfahrtleiter Bill O'Hara mit einem offiziellen Protest durch 11th Hour Racing und einer schnellstmöglichen Entscheidung der Jury über den Umgang mit der Situation gerechnet. Die Entscheidung hat in jedem Fall gravierende Auswirkungen auf den Ausgang des Rennens. Dass 11th Hour eine Wiedergutmachung erhält, gilt als wahrscheinlich. Sie könnte so ausfallen, dass die Amerikaner das 14. The Ocean Race ohne Fortsetzung der Etappe gewinnen.
Charlie Enright und seine Crew hatten vor Beginn der Finaletappe bei 33 Punkten zwei Zähler Vorsprung auf Team Holcim – PRB. Zu gern hätten die Schweizer mit den Amerikanern auf dem Wasser um den Gesamtsieg gekämpft. Die Aufgabe war für Team Holcim – PRB schwer, aber nicht gänzlich unlösbar. Sie hätten drei Plätze besser sein müssen als 11th Hour Racing. Nun können sie darum nach sehenswertem Start nicht mehr auf dem Wasser kämpfen und sind damit indirekt ebenfalls “Opfer” der Kollision.
Noch trauriger macht das Drama an diesem 15. Juni, dass es ausgerechnet vom ohnehin so leidgeprüften Team Guyot verursacht wurde. Und dass es ausgerechnet das geschädigte Team 11th Hour Racing war, das der Comeback-Mannschaft um Skipper Ben Dutreux seinen Ersatzmast zur Verfügung gestellt hatte. Nach dem umjubelten Sieg im Hafenrennen und viel Aufbruchstimmung hat Team Guyot in Den Haag nun ein weiteres Tief zu überwinden.
“Guyot”-Teammanager Jans Kuphal, der die Übertragung des Starts mit vielen weiteren Mitgliedern aus seinem und anderen Teams auf der “Sailor’s Terrasse” im Etappenhafen Den Haag verfolgt hatte, berichtete am Abend vor “herzzerreißenden Szenen” am Dock. Ben Dutreux und Charlie Enright umarmten sich lange – und weinten beide. Zu Robert Stanjek sagte Enright später: “Wenn es keine Absicht ist, ist es ein Unfall.” Das, so Kuphal, sei eine große Haltung, für die sein Team dankbar ist.
Auch für die Rennveranstalter hat die Kollision schwerwiegende Folgen. Es segeln nur noch drei Boote nach Genua. Die Gesamtsiegerin wird dort möglicherweise fehlen. “Eine Katastrophe”, war am Abend aus Den Haag immer wieder zu hören. Jens Kuphal beschrieb es “wie einen Autounfall”: “Man ist komplett geschockt. Man kann es nicht fassen. Wir wind am Boden zerstört.” Team Guyot hat das Rennen inzwischen offiziell aufgegeben. “Das Boot segelt erst einmal nicht mehr”, sagte Jens Kuphal. Aber auch diese Worte: “Wir werden das zusammen ertragen und uns gegenseitig da durchtragen.”