The Ocean RaceDie Heldentat des Will Harris – bisher unveröffentlichtes Material

Jochen Rieker

 · 16.07.2023

Bedeckt mit Kohlefaser und gezeichnet von den Strapazen: Will Harris hatte die zu beklebende Fläche rund um den Riss im Mast dort angeschliffen, wo später mehrere Gelege Carbon-Laminat aufgebracht wurden
Foto: Antoine Auriol/Team Malizia/The Ocean Race
YACHT-Herausgeber Jochen Rieker hat das Ocean Race eng verfolgt, war beim Team Malizia in mehreren Etappenhäfen. Seine Erlebnisse und viele bisher unveröffentlichte Fakten hat er im Buch „Boris Herrmann und das Rennen um die Welt“ niedergeschrieben. Hier gibt es das komplette Kapitel zur 3. Etappe zu lesen.

Wie sich das Mast-Drama wirklich abspielte

Als sie ihr iPhone einschaltet, gleich nach der Landung in São Paulo, ahnt Holly Cova, dass etwas nicht stimmen kann. Sie ist mit einem Teil des kaufmännischen Teams von Kapstadt nach Brasilien geflogen. Von hier will sie das Rennen begleiten, den Etappenstopp in Itajaí vorbereiten – inzwischen Routine für die Teamdirektorin von Malizia. Nachdem sich ihr Telefon im Mobilfunknetz der brasilianischen Metropole eingeloggt hat, zeigt das kleine rote Fenster rechts über dem WhatsApp-Symbol mehr als 400 neue Nachrichten – nach nur neun Stunden offline. Irgendetwas kann nicht stimmen.

Schon auf dem Weg zur Passkontrolle hat sich die krisenerprobte Managerin einen ersten Überblick über die Lage verschafft. In der vielfach gewundenen Warteschlange vor den Einreise-Schaltern telefoniert sie das erste Mal mit Boris Herrmann. Der ist auf See – und am Boden.

Zuerst geht der Code Zero verloren

In den Abendstunden des dritten März, erst dem zweiten Tag dieser auf bis zu 40 Tagen Dauer taxierten Monsteretappe, ist auf dem deutschen Boot der Code Zero ins Wasser gefallen. Da liegt „Malizia – Seaexplorer“ nach einem zähen Start aussichtsreich auf Platz drei. Zunächst gilt alle Aufmerksamkeit der Crew dem Bergen des riesigen Segels.

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Es misst 220 Quadratmeter, weit mehr als ein durchschnittliches Einfamilienhaus an Wohnfläche hat, und es besteht aus schwerem Laminat. Zunächst hängt es noch halb im Rigg, wild schlagend, halb schon über Bord. Bis die Crew im Ölzeug und an Deck ist, hat es sich ums Backbordfoil gewickelt. Mehr und mehr gibt das Fall nach, an dem es in den Mast gezogen wurde. Boris Herrmann kappt das leichte, aber hochfeste Dyneema-Geflecht. Dann sichert er Will Harris, der über die Bordwand auf den orangerot lackierten Tragflügel klettert.

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Der Co-Skipper hat das schon einmal gemacht, auf der Rücküberführung nach der Route du Rhum im Nordatlantik, bei ähnlichen Bedingungen: sechs Windstärken, drei bis vier Meter Seegang. Will zögert nicht. Mit seinem Messer durchtrennt er mühsam das teure Tuch, das sie bis Itajaí nicht mehr werden einsetzen können. Aber das spielt jetzt keine Rolle. Nur weg mit dem Segel, keine Folgeschäden riskieren, möglichst rasch wieder in Fahrt kommen.

Fehlersuche verschoben

Weil es stockdunkel ist, als der triefend nasse Code Zero endlich in der Segellast verschwindet, verschieben sie die Fehlersuche auf den nächsten Morgen. Vielleicht hat nur die Verriegelung des Toppbeschlags versagt, der das Fall entlastet und das Segel in Position hält.

Es wäre nicht das erste Mal; solche Probleme gibt es immer wieder. Boris Herrmann hatte bei der letzten Vendée Globe im Südatlantik ähnlichen Ärger damit. Damals musste er, der Höhenangst hat, allein in den Mast klettern. Das wird ihm morgen früh Rosalin Kuiper abnehmen, die solche Ausflüge ins zehnte Stockwerk genießt und der auch sonst vor nichts bange ist.

Vor dem Ablegen in Kapstadt sagte sie: „Wenn ich segeln gehe, stelle ich mich immer darauf ein, dass ich in den Krieg ziehe. Ich bereite mich darauf vor, mich selbst komplett zu brechen, mental und physisch. Alles, was weniger schlimm ist, nehme ich als großes Geschenk.“ Boris sagte: „Ich bin ein bisschen angespannt. Mir ist wichtig, dass wir ankommen und dass wir gut segeln, weil das der Höhepunkt vom Ocean Race ist. Ich scheine mir immer relativ viele Sorgen zu machen. Und das ist jetzt auch wieder so.“

Im Seesack hat er den Norweger-Pullover, der schon bei der Vendée sein Markenzeichen geworden ist, eine Art Glücksbringer. Diesmal ist er weiß, nicht rot wie bei seinem großen Solo vor zwei Jahren. Alle in der Crew haben einen. Boris wird ihn am nächsten Tag das erste Mal überstreifen. Dem Team steht ein schwerer Tag bevor, der schwerste des gesamten Ocean Race.

Böse Überraschung am nächsten Tag

Als es hell ist am kommenden Morgen, peilt Boris mit dem Fernglas am Mast hinauf, macht Fotos mit dem Smartphone, bittet Antoine Auriol mit seiner höher auflösenden Profikamera, dasselbe zu tun. Boris hatte schon am Abend ein ungutes Gefühl, und was er sieht, bestätigt seine Sorge. Etwas in ihm zieht sich zusammen. Weit oben im Topp des 300.000 Euro teuren Profilmasts von „Malizia – Seaexplorer“ ist ein Riss auszumachen. Das Fall, das der Skipper gekappt hatte, hängt darin fest.

Im Cockpit hält die Crew eine erste Lagebesprechung ab. Es liegt eine ungewohnte Schwere in der Luft. „Fuck!“, entfährt es Boris. Er klingt nicht wütend, sondern resigniert. „Ich bin im Moment etwas angeschlagen“, sagt er. Will Harris übt sich in Optimismus: „Lasst uns sehen, wie schlimm es wirklich ist.“ Er habe so ein Gefühl, dass der Spalt im Mast „nur so groß ist“, sagt er. Dabei spreizt er Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand etwas, vielleicht sieben, acht Zentimeter. Das wäre nicht weiter tragisch, das ließe sich reparieren.

Schaust du runter, wird dir erst klar, wie hoch oben du bist”

Dann kurbeln sie Rosie ins Rigg. Sie hängt in einem Klettergurt an einem zweiten Fall, das ebenfalls bis zur Mastspitze führt. Über ein Bluetooth-Headset ist sie mit der Crew im Cockpit verbunden, hat Smartphone, Gopro-Kamera, Maßband und einen Permanentmarker dabei. „Wenn du oben bist, konzentrierst du dich nur darauf, dass du den Job erledigst“, sagt sie. „Schaust du runter, wird dir erst klar, wie hoch oben du bist, wie klein – und wie groß der Ozean um dich herum.“

Die erste Bestandsaufnahme

Rosie nimmt sich Zeit, den Schaden genau zu dokumentieren. Von ihrer Bestandsaufnahme wird später alles abhängen, vor allem die Entscheidung, ob der Spalt überhaupt reparabel ist. Sie misst dessen Länge aus und schreibt die Information aufs schwarz lackierte Kohlefaserprofil, das wie grob aufgesägt aussieht und aus dessen Lücke scharfe Splitter ragen.

Der Spalt ist nicht sieben Zentimeter lang, wie Will Harris hoffte, sondern 26 Zentimeter, fast das Vierfache. Und was noch bedrohlicher wirkt: Er endet nur eine Handspanne über den Laschings der Oberwanten – den Kabeln, die den Mast seitlich in Position halten.

Wie genau es dazu kam, wird sich erst später herausstellen. Klar ist: Der Augbeschlag des für 16 Tonnen Bruchlast ausgelegten Edelstahl-Hakens, durch den das Fall läuft, muss gebrochen sein. So hing der Code Zero nur noch am Fall, dessen Laufweg im Rigg für diese Last überhaupt nicht vorgesehen ist. Es wird eigentlich über die Rolle im Toppbeschlag, der an einer Lasching hängt, nach unten umgelenkt und über ein unverstärktes Langloch ins Mastinnere geführt. Nach dem Bruch des Beschlags aber fehlte die Umlenkung. Jetzt war das Langloch der oberste Punkt der Lastaufnahme. Unter dem tonnenschweren Zug des Code Zero sägte sich das Fall minutenlang durch die Kohlefaserlagen des Flügelmasts.

Hilfe von außen

Fotos des Spalts gehen über Satellit zum Technik-Team an Land. Die Imocas haben eine permanente Verbindung ins Internet; per W-Lan kann jeder an Bord Nachrichten, Fotos, kurze Videos verschicken; meist geschieht das über den Messenger-Dienst WhatsApp, den Haupt-Kommunikationskanal für Malizia. Es gibt für Fälle wie diesen eine eigene Chatgruppe, die Segler, Teamleitung und Techniker verbindet: „Malizia@Sea“. Zwei Mitglieder sind praktisch ständig auf Empfang: der Neuseeländer Stu McLachlan, als Boat Captain der erfahrenste Mann, die Ruhe selbst. Und Holly Cova – wenn sie nicht gerade im Flieger nach São Paulo sitzt.

Das Prozedere bei Schäden sieht vor, dass über „Malizia@Sea“ die jeweiligen Spezialisten aktiviert werden. Oft können die direkt helfen. Manchmal aber, wenn es komplizierter wird, verlagern die Techniker die Analyse und Lösungsfindung in eine eigene WhatsApp-Gruppe, an den Seglern vorbei, damit die nicht unnötig verunsichert werden und das Boot einstweilen auf Kurs halten können.

Wenn das Rigg kommt, dann war es das”

So war es auf der vorigen Etappe, als Will bei einem seiner Routine-Checks die Risse an der Achterkante des Foil-Schafts gefunden hatte. So ist es jetzt wieder. Vorübergehend kehrt Funkstille ein auf dem internen Notfallkanal des Teams.

Die Segler aber lässt der Gedanke nicht los, was mit ihrem Mast ist, wie sehr er in der vorigen Nacht in Mitleidenschaft gezogen wurde. Wieder stehen und sitzen sie im Cockpit zusammen, während das Boot nur unter Großsegel langsam Fahrt nach Westen macht, wie flügellahm. Alle wirken konsterniert. „Wenn der oberste Teil des Masts bricht, können wir immer noch nach Hause segeln“, sagt Boris. „Wenn das Rigg runterkommt, dann könnte es ziemlich kompliziert werden. Es könnte sein, dass wir von einem Frachter abgeborgen werden, und das wär’s dann. Ende der Geschichte!“

Hektik beim Landteam

Unterdessen ist Holly Cova, noch müde nach dem langen Transatlantikflug, in São Paulo ansatzlos in den Krisenmodus gewechselt. Um auf den langen Wegen durch den Flughafen Nachrichten lesen und tippen zu können, bittet sie Lucia Nebreda und Marie Lefloch, die mit ihr reisen, sie durch die Menschenmassen zu lotsen. Ihr Blick ist pausenlos aufs Display geheftet. Sie weiß, was auf dem Spiel steht. Und sie ahnt, was der Spalt im Mast mit der Crew macht, vor allem mit dem Skipper.

Ein Mastbruch im Südpolarmeer wäre der Worst Case“

Sofort ist ihr klar, dass wenig Zeit bleibt, die elementarste Entscheidung zu treffen: umkehren oder, falls möglich, reparieren. „Ein Mastbruch im Südpolarmeer wäre der Worst Case“, sagt sie. Boris’ Stimme klingt kraftlos.

Holly ist für ihn jetzt nicht nur diejenige, die den Laden zusammenhält, sondern auch Freundin und engste Vertraute. „Ich bin ziemlich enttäuscht im Moment“, sagt er, den Tränen nah. „Na klar“, sagt sie, „na klar!“ Etwas später reflektiert sie die Situation: „Ich habe versucht, einen klaren Kopf zu bewahren, denn ich konnte hören, dass Boris ziemlich besorgt ist. Ich wollte einfach nur für ihn da sein, um ihn zu unterstützen und ihm Mut zu machen, egal, welche Entscheidung er treffen würde.“

Boris Herrmann ist verzweifelt

Auch an Bord findet Boris Beistand. Rosie spürt, wie sehr ihn der Vorfall in die Knie zwingt. Er hat „Malizia – Seaexplorer“ für den Southern Ocean konzipiert. Er hat schon in Alicante davon gesprochen, dass ihm diese Etappe besonders am Herzen liege. „Das ist für mich das Highlight!“, sagte er in der Pressekonferenz der Skipper vor dem Start. Jetzt steht all das auf dem Spiel.

Rosie versucht, ihn auf andere Gedanken zu bringen: „Wir sind hier, im Southern Ocean, wir haben wundervollen Sonnenschein, wir haben gute Gespräche.“ Boris sagt: „Das ist positives Denken. Wenn wir es hinkriegen, bis ins Ziel zu segeln, wäre das ein riesiger Erfolg. Im Moment könnten wir nicht weiter davon entfernt sein. Wir haben einen kaputten Mast, keinen Wind.“ Das Boot taumelt wie betrunken in der Altsee. „Ich bin so froh, nicht allein zu sein. Es wäre eine Horrorvorstellung solo. Für mich ist es schon so schwierig, mit dieser Crew. Allein? Ich weiß nicht ...“ Dann kneift er die Augen zusammen, winkt unbeholfen und bricht ab.

Doch er ist nicht allein. Er hat vier starke Charaktere um sich und ein fähiges Team an Land, das zwar nach der Abreise aus Südafrika auf drei Kontinenten verstreut ist und in unterschiedlichen Zeitzonen lebt, sich aber im Nu an die Arbeit macht. Eine kleine Expertentruppe unter der technischen Leitung von Jesse Naimark-Rowse tüftelt aus, ob und wie sich der Spalt schließen lässt. Jesse sieht sich die Konstruktionszeichnungen der Mastbauer von Lorima in Frankreich an, bespricht sich mit den Designern des Boots, stellt eigene Berechnungen an. Stu McLachlan geht die Stücklisten mit dem an Bord mitgeführten Material durch: Harzmenge, Härter, Carbongelege, Kleber, Folien. „Im Moment fühlt es sich so an, als wären wir auf einer Apollo-Mission im Weltall“, sagt Holly Cova.

Reparaturanleitung per PDF

Mit Unterstützung seiner Kollegen tüftelt Jesse Naimark-Rowse eine Reparaturanleitung aus. Das PDF umfasst elf Seiten und beschreibt Schritt für Schritt die Arbeitsabläufe, inklusive minutiöser Zeitangaben, wann welcher Handgriff zu erfolgen hat. Er sitzt in Bristol, im „schönen, warmen, trockenen Home-Office“, und muss für Segler denken, die demoralisiert sind, müde, mutlos. „Wir müssen supergenau sein“, sagt er. Denn die Crew hat nur eine einzige Chance. Für mehr reicht das Material nicht.

Während Kevin Escoffier mit Holcim – PRB an der Spitze Tempo macht, stets zwischen 15 und 20 Knoten loggt, fällt „Malizia“ weit zurück. Einen Tag nach dem Problem mit dem Code Zero hat sie schon mehr als 200 Seemeilen Rückstand. Andere Teams sind auch von Problemen betroffen. Auf 11th Hour Racing gehen zwei Vorsegel in die Binsen, später entdeckt die Crew Risse an beiden Rudern. Und das ist erst der Auftakt einer schier endlosen Kette von Schäden. Biotherm findet nach einem Stolperstart in Kapstadt ebenfalls nicht aus dem Basteln heraus, muss am Großschot-Traveller nacharbeiten und eine Winsch instand setzen. Obendrein ist ein Foil angebrochen.

Am schlimmsten trifft es Guyot Environnement – Team Europe. Im Rumpfboden löst sich das Kernmaterial von der inneren und äußeren Carbonschicht ab. Beim Stampfen in der Welle hebt und senkt sich das Laminat. Jeden Moment kann die Hülle durchbrechen. Benjamin Dutreux bleibt keine andere Wahl, als umzukehren. Die Reparatur in Kapstadt erweist sich später als so umfangreich, dass die Crew die Etappe aufgeben muss.

Das Rennkonzept wird in Frage gestellt

Kommt jetzt, so früh schon, die Stunde der Wahrheit für die Imocas? Sind die Boote, wie Skeptiker argumentierten, zu filigran, als dass sie dem Zusatzgewicht und dem härteren Einsatz im Vergleich zur einhand gesegelten Vendée Globe standhalten können? Selbst Richard Brisius, CEO des Ocean Race, beschlich vor dem Start der Königsetappe ein mulmiges Gefühl. Er ist das Rennen schon zweimal selbst mitgesegelt, weiß um die Härten des Südmeers. Als er die Teams am Steg verabschiedet hatte, war da auch die Sorge um deren Sicherheit. „Man sollte nie vergessen, wie ernst diese Etappe ist, was auf dem offenen Meer alles passieren kann, wenn menschlicher Ehrgeiz und Spitzentechnologie zusammenkommen.“

Aus diesem Grund haben alle Teams mit Ausnahme von Biotherm ihre Boote in Kapstadt umfassend geprüft und gewartet. Sämtliche Riggs wurden gezogen und gecheckt, galten sie doch als potenziell schwächster Punkt. Die neuen Foils produzieren bei schneller Fahrt so viel Auftrieb, dass die Boote sich kaum mehr zur Seite neigen, wodurch der Winddruck minimiert würde. Sie halten derart stark gegen die Kräfte von Segeln und Mast, dass dieser an seine Lastgrenze kommen kann. Aber nicht nur dem Rigg gilt höchste Aufmerksamkeit in der Vorbereitung.

Nicht der einzige Schaden

Bei Team Malizia gibt es noch eine andere gravierende Baustelle: Das Boot produziert oberhalb von 20 Knoten Geschwindigkeit ein derart schrilles, lautes, alles durchdringendes Kreischen, dass Rosalin Kuiper auf Etappe zwei einen temporären Tinnitus davontrug.

Deshalb schleifen die Bootsbauer die nur wenige Millimeter dünnen Achterkanten von Kiel, Foils und Rudern in wechselnden Richtungen schräg an. Das soll die Vibrationen mindern, die durch Strömungswirbel entstehen und durch den Carbon-Rumpf verstärkt werden – ähnlich dem Korpus einer Gitarre, nur viel lauter. Es hört sich an, als stünde man bei einem Rockkonzert ganz vorn an den Lautsprechertürmen, sagt Will, der sich noch einigermaßen damit abfinden kann. „Ja, aber bei richtig schlechter Musik“, ergänzt Rosie.

Als sie nach dem Start von Leg drei die Flautenzone südwestlich der Spitze Afrikas hinter sich lassen, erstmals schnell unterwegs, können sie ihr Glück kaum fassen: Der Krach ist weg, jedenfalls weitgehend. Das Kreischen ist einem sonoren Heulen gewichen.

Die Rennaufgabe wird erwogen

Dafür zerrt jetzt der Spalt im Mast an den Nerven der Malizia-Crew. Jesse hat den Seglern das PDF geschickt. Falls es ihnen gelingt, die dort dargelegte Reparatur durchzuführen, sollte das Rigg halten. Doch der Seegang ist noch immer schrecklich. Wieder ruft Boris seine Teamchefin an. Er fragt sie, ob sie das Risiko, weiter zu segeln, für vertretbar halte. Holly antwortet umgehend: „Ich denke, ihr solltet die Reparatur versuchen und dann sehen, ob ihr damit zufrieden seid. Das ist das Wichtigste. Das ist mein Gefühl.“

Manchmal ist Weitermachen der noch viel größere Triumph”

Boris: „Wenn die Reparatur nicht gelingt, werden wir umkehren müssen, glaube ich.“ Holly: „Ja.“ Und nach einer kurzen Pause: „Es wäre prima, ein perfektes Boot zu haben und dass alles perfekt funktioniert, klar. Aber es spricht auch viel dafür, das Problem zu beheben und weiterzumachen. Manchmal ist das der noch viel größere Triumph, weißt du?“ Boris, verzagt: „Ja.“ Er klingt nicht sehr überzeugt. Holly: „Wir können wieder telefonieren. Schau mal, wie ihr’s hinkriegt.“

Come on, let’s get going!“

Es ist Will Harris, der schließlich die Initiative übernimmt. Genervt vom Warten auf bessere Bedingungen, sagt er ungeduldig: „Come on, let’s get going!“ Es dauert dennoch etliche Minuten, bis er bereit ist. „Das Schwierigste war die Vorbereitung“, sagt er später in einer langen Audio-Nachricht. „Was brauche ich für die Arbeiten? Was ziehe ich an? Wenn du mal oben bist, willst du nicht wieder runter, nur weil du was vergessen hast. Du musst also an alles denken.“

Die Reparatur wird vorbereitet

Er legt seine Schwerwetterhose an, die an den Knien Schaumpolster hat, dazu Stiefel, Helm und seine dick gefütterte Thermo-Jacke. „Ich dachte, dass sie den Aufprall auf den Mast etwas abpuffern würden. Das hat auch funktioniert. Aber beim Anschleifen der Reparaturstelle wurde mir sooo heiß! Allein das Verkeilen am Mast bringt deinen Herzschlag schon nahe ans Limit. Dann spannst du die Muskeln noch zusätzlich an, um die Verletzungsgefahr zu verringern – und all das in Winterklamotten! Ich konnte spüren, wie mir am ganzen Körper der Schweiß runterlief. Wahrscheinlich einer der heißesten Momente, die ich je erlebt habe.“

Ich musste extrem aufpassen, wann die nächste Welle kommt”

Oben auf rund 27 Meter Höhe angekommen, bindet er sich mit einem Zeising fest, mit dem normalerweise Segel an Deck oder am Großbaum festgelascht werden. Mit einem Fuß verhakt er sich hinterm Oberwant. So ist er halbwegs fixiert. „Ich musste dennoch extrem aufpassen, wann die nächste Welle kommt, in welche Richtung sie mich werfen würde. Ein-, zweimal bin ich überrascht worden von einer Pendelbewegung. Da haut es dich von einer Seite des Masts auf die andere. An einem Punkt bin ich richtig sauer geworden auf die Wellen, weil sie mir nicht gehorcht haben – vermutlich eine Folge der Ermüdung, Erschöpfung und Überhitzung.“

Die Reparatur beginnt

Zum Anrauen des Masts hat der 29-Jährige einen akkubetriebenen Winkelschleifer dabei. „Der trägt ganz gut was ab. Deshalb musste ich aufpassen, dass ich nicht zu tief in die äußere Kohlefaserschicht schleife und schon gar nicht an die Laschings der Oberwanten komme, die den Mast halten. Das ist nicht einfach, wenn du da oben hängst und das Gefühl hast, jemand würde dich dauernd schütteln.“

Am Ende arbeitet er die Stelle mit Schleifpapier per Hand nach. „Das ging ziemlich gut. Nur hab ich mir dabei einen Carbon-Splitter in den Handballen gerammt. Ich konnte ihn mit meinen Zähnen rausziehen. Das war ein Glück, denn wenn er in meiner Hand abgebrochen wäre ... nicht gut!“

Wie sollten mich die anderen da heil wieder runterkriegen?”

Die Höhe ist für Will kein Thema. Er ist Kletterer und trainiert daheim regelmäßig, in der Halle oder draußen. Was ihm Sorge bereitet, ist, das Bewusstsein zu verlieren. „Hätte ich mir den Kopf schwer angeschlagen und wäre ohnmächtig geworden, dann hätte ich keine Kontrolle mehr über meinen Körper. Wie sollten mich die anderen da heil wieder runterkriegen, so, wie ich mich gesichert hatte?“

Und noch mal hoch in den Mast

Nach dem Schleifen lässt er sich abseilen, wäscht den Kohlefaserstaub aus dem Gesicht und legt sich eine halbe Stunde zum Schlafen hin. Danach isst er etwas, während die anderen auf dem Boden des Crew-Quartiers die Laminatstreifen vorbereiten – was ebenfalls eine Herausforderung ist, weil die Arbeit sehr präzise ausgeführt werden muss. Allein dafür brauchen Rosie und Boris drei Stunden. Unterdessen segelt Nico Lunven das Schiff allein.

Dann geht Will wieder in den Mast. „Ich habe nicht damit gerechnet, dass ich oben bleiben würde, bis es dunkel ist, ehrlich gesagt.“ Aber so kommt es. Der Seegang ist immer noch lausig. Eine leichte Brise bringt immerhin Fahrt ins Schiff, was dessen Bewegungen etwas stabilisiert. Während des Laminierens nimmt der Wind jedoch weiter zu. „Malizia“ setzt hart in die See ein. Will Harris stöhnt. „Ooohhh, halt, halt – große Welle!“

In einem blauen Eimer befördern Rosie und Boris die vorgetränkten Kohlefaser-Flicken nach oben. Während Nico Lunven versucht, das Schiff zu verlangsamen, beschichtet Will die angeschliffene Reparaturstelle mit Spabond, einem extrem haftstarken Strukturkleber.

Dann wird es noch mal knifflig für ihn. Er muss drei Pakete von je sechs Lagen Carbon-Gelege genau ausrichten und andrücken – „ohne, dass ich da reingeschleudert werde“. Es ist wie eine komplizierte Zirkusnummer. „Du hast da dieses schwere Kohlefaserpflaster in der Hand, voll mit frischem Harz, und sollst es kontrolliert auf die geschliffene Stelle bringen.“ Auch das Entlüften ist kompliziert. „Ich musste mich selbst und alles, was an Leinen, Karabinern und sonstigem Zeugs an mir hing, von dem Laminat fernhalten. Das hat etwa 45 Minuten gedauert. Und ich hab’s so gerade noch geschafft, die Stelle abzukleben, bevor meine Beine komplett übersäuert waren. Am Ende hab ich mich echt beeilt. Das Abkleben hat noch mal 20 Minuten gedauert.“

Im Dunkeln nimmt Will ein letztes Video auf. Er hängt neben dem mit blauem Tape gegen das Verrutschen und die Nachtfeuchte abgedeckten Carbon-Flicken. „Riesenleistung vom Team“, sagt er, der oben den schwersten Job erledigt hat. „Jetzt bin ich gespannt, ob wir ins Rennen zurückkommen können.“ In der Koje durchziehen wenig später Krämpfe seine überanstrengte Beinmuskulatur.

Nun muss Rosie Kuiper nach oben

Am nächsten Tag schleift Rosie oben im Topp überschüssige Harzreste glatt und klopft mit einem Ringschlüssel die Reparaturstelle ab, um anhand der Geräusche feststellen zu können, ob das Laminat vollflächig anhaftet – was hörbar der Fall ist. „Well done, William!“, ruft sie. „Wenn man einen Job gut hinkriegt, macht einen das so zufrieden!“

Das Boot segelt in frischem Wind bereits wieder mehr als 10 Knoten schnell, nach wie vor ohne Vorsegel, weil die Crew den Mast nicht zu früh belasten will. Noch muss das Epoxidharz in der Kühle des Southern Ocean komplett aushärten. Doch am 3. März, Tag fünf der Etappe hat gerade begonnen, trägt „Malizia“ wieder Vollzeug. Sie ist inzwischen Letzte der vier noch verbliebenen Imocas im Rennen.

Da oben hast du Kräfte, die du an Land nie hättest”

„Die Mast-Aktion hat meinen Körper ganz schön geschlaucht“, erzählt Rosalin. „Wenn du da oben bist, hast du wegen des Adrenalins Kräfte, die du an Land nie hättest. Danach fühlst du dich kaputt, so als wärst du von einem Laster überrollt worden. Aber es gibt mir auch das Gefühl, lebendig zu sein, und es ist Teil des Sports, den ich liebe: durchhalten, Grenzen verschieben, das Maximum aus mir rausholen, jeden Tag.“

Will Harris, Mann des Moments, sagt: „Wir sind wieder auf Kurs. Wir haben’s geschafft. Das Boot macht 25 Knoten. Das Rennen geht definitiv weiter. Wirklich cool!“

Die Aufholjagd beginnt

Und wie es weitergeht! An Tag acht rückt „Malizia – Seaexplorer“ auf Platz drei vor, kurz vor dem Wertungstor auf Höhe Westaustraliens zieht sie an 11th Hour vorbei und passiert die Wegmarke als Zweite. Im Pazifik beweist sie schließlich ihre wahre Stärke, die sie bereits im Schlussdrittel der zweiten Etappe angedeutet hatte: Wann immer es ungemütlich wird, kann ihr kein anderes Boot folgen, auch nicht die über weite Strecken dominante „Holcim – PRB“. Vom 105. Längengrad an behauptet sich „Malizia“ an der Spitze des Feldes.

Die Drohnenaufnahmen, die die Crews von Bord schicken, lassen ahnen, wie es da unten, nahe dem 50. Breitengrad, auf den Schiffen zugeht. Auf ihren Foils fliegen sie teils über die Wellen, oft aber krachen sie auch ungebremst hinein, sodass ein Zittern durchs ganze Rigg geht. Bohren sie sich mit dem Bug in die See, hebelt es das Heck hoch, die Ruder tauchen aus, und dann entscheiden Wind und Wellen, auf welche Seite sich das Boot legt.

Wird es nach Luv gedrückt, in den Wind, lässt es sich relativ rasch wieder auf Kurs bringen. Das dauert im besten Fall weniger als eine Minute. Schlimmer als ein solcher Sonnenschuss ist eine Patenthalse. Dann liegt das Boot auf der anderen, der falschen Seite: Der Kiel steht nach Lee, verstärkt die Krängung noch, das Groß wird vom Wind herumgerissen und verfängt sich im Backstag. Meist braucht es dann die ganze Crew, bis so ein Schlamassel bereinigt ist, bei dem Segel und Rigg leicht Schaden nehmen können.

„Malizia Seaexplorer“ bewährt sich

Mit ihrem extremen Löffelbug und nach achtern getrimmtem Ballast ist „Malizia“ zwar auch nicht ganz gefeit vor solch ungewollten Aktionen, aber weit weniger gefährdet. Und so wächst mit jedem Tag der Respekt und die Anerkennung der Konkurrenz vor dem im Vergleich wuchtig wirkenden VPLP-Design. Selbst Kevin Escoffier, der der deutschen Imoca noch am ehesten folgen kann, sagt später im kleinen Kreis: „Für die Vendée Globe ist es ein sehr interessantes Konzept.“

Nach Kap Hoorn, in den chaotischen Bedingungen des Südatlantiks, der die Crews noch mehr fordert als das Südpolarmeer, bleibt der erfahrene Skipper und Ingenieur zwar dichtauf. Doch kurz vor Itajaí, im letzten Tief, versagt zweimal sein Autopilot. Bei Böen von 40 Knoten bleibt das Schweizer Boot lange auf der Seite liegen, läuft über die achtere Cockpitöffnung teils mit Wasser voll, während Boris, Will, Rosie, Nico und Antoine in ihrem Hochsee-SUV die Front unbehelligt abreiten. Es ist die Vorentscheidung.

Und so geschieht tatsächlich das Wunder, an das der Skipper zu Beginn nicht zu hoffen gewagt hatte: In der Nacht des 34. Tages auf See läuft „Malizia – Seaexplorer“ als Erste in Itajaí ein und entscheidet die längste Etappe in 50 Jahren Ocean-Race-Geschichte für sich. Mit unfassbarer Motivation, Resilienz und vollem Einsatz trotzen die Segler dem Schicksal eine selbst von Experten kaum für möglich gehaltene Wendung ab, kitten den Mast und schaffen ein legendäres Comeback.

Man kann seine Grenzen verschieben”

Trotz des Zeitverlusts durch die Mastreparatur sind sie Erste im Ziel, springen in der Gesamtwertung von Platz vier auf zwei. Und was fast noch besser ist: Sie waren Schnellste zwischen Kapstadt und Kap Hoorn. Damit steht Boris Herrmanns Name jetzt neben denen all der anderen Granden des Rennens, eingraviert auf der prestigeträchtigen Roaring-Forties-Trophy. Ein Erfolg, der ihm für immer bleiben wird, an den sich noch Generationen deutscher Segler nach ihm erinnern werden.

„Das ist kein Fun-Sport, diese Art zu segeln“, sagt er. „Man verlangt sich ‘ne ganze Menge ab. Und dann stellt man immer wieder fest: Das schafft man, man kann seine Grenzen verschieben. Und man lernt auch was über sich selbst.“

Der Triumph in Brasilien

An Land, in Itajaí, nach mehr als einem Monat der Strapazen, nach Wochen des Bangens bis zuletzt – zunächst, ob der Mast halten wird, dann, ob der Vorsprung vor Holcim reichen wird – ist er so voller Endorphine, dass er auch dann nicht zur Ruhe kommt, als alle Pflichttermine einer so triumphalen Ankunft abgearbeitet sind: Fernseh-Interviews, Preisverleihung, Autogramme, eine erste Online-Pressekonferenz.

Das Team hat ihm wie allen aus der Crew ein Zimmer im Hilton gebucht, etliche Kilometer weg vom Trubel des Race Village, mit Pool, Spa, Zimmerservice. Aber Boris will nicht allein sein, sich nicht zurückziehen. Nicht jetzt. Noch Tage später feiert er in einer kleinen Strandbar südlich von Itajaí bis in die frühen Morgenstunden. So viel, das alles, so groß, so bewegend die Erlebnisse auf dieser, seiner Etappe.

Es ist ja nicht nur der sportliche Erfolg, sind nicht nur die Tiefen und Höhen der Mastreparatur. Auf den am Ende fast 15.000 Seemeilen kann er das Design von „Malizia“ validieren, für ihn vielleicht der wichtigste Erfolg.

Alle zusammen schaffen etwas Großes“

Und quasi nebenbei setzt sein Team einen neuen Standard für die Berichterstattung von Bord. Die Videos, die Antoine Auriol produziert, sind unerreicht. Als Einziger liefert der Deutsch-Franzose von der Crew live kommentierte Drohnenaufnahmen – und wird als selbst ernannter „Fly Captain“ selbst zum Charakterdarsteller. Mit Rosie zusammen startet Boris mitten im Südpolarmeer mal eben einen Podcast, „Off Watch“, der tiefe Einblicke in das Seelenleben der Segler ermöglicht. Nie zuvor konnten Fans so hautnah dabei sein. Selbst als die Holländerin vor Kap Hoorn in einer Welle aus der Koje und quer durch die Kajüte fliegt, laufen Kameras und Mikrofone. Ihr Verband und ihre Tapferkeit bringen ihr den Spitznamen „Pirate Rosie“ ein.

Die Resonanz ist noch größer als bei Boris’ Vendée Globe. Während das Interesse der Öffentlichkeit in Frankreich unter den Erwartungen bleibt, lieben seine Fans das Rennen. Gut die Hälfte aller Zugriffe auf die Ocean-Race-Website kommt aus dem deutschsprachigen Raum.

Auf der Team-Party am Abend nach der Zielankunft sagt er: „Es sind so viele kleine Handgriffe nötig, die den Erfolg ausmachen. Jeder einzelne ist scheinbar unbedeutend, wenig glamourös. Aber alle zusammen schaffen etwas Großes.“


Das Buch zum Race

„Boris Herrmann und das Rennen um die Welt”

Mit diesem Text-Bildband sind Sie hautnah dabei: bei der Taufe der neuen Hightech-Yacht „Malizia Seaexplorer“, bei den ersten Tests des Renngeschosses, beim Zusammenwachsen des Teams, bei allen Höhe- und Tiefpunkten des prestigeträchtigen Segelrennens um die Welt! Neben spektakulären Segel-Bildern vom Rennen und direkt von Bord enthält das offizielle Buch zum Ocean Race auch ein persönliches Vorwort von Boris Herrmann.

Verlag Delius Klasing; gebunden; ISBN 978-3-667-12746-4; 160 Seiten, Format 21 x 24; 29,90 Euro, vorbestellbar, lieferbar ab 20.7.2023Verlag Delius Klasing; gebunden; ISBN 978-3-667-12746-4; 160 Seiten, Format 21 x 24; 29,90 Euro, vorbestellbar, lieferbar ab 20.7.2023

Die YACHT-Zusammenfassung der dritten Etappe im Video


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