Andreas Fritsch
· 13.01.2023
Welches Team hat die beste Siegchance? Wer schafft es noch aufs Podest? Trotz nur fünf Startern fällt die Potenzialeinschätzung in der Imoca-Klasse nicht leicht. Wir versuchen’s trotzdem. Hier ist der YACHT-Form-Guide!
Die Siegformel für das Volvo Ocean Race lautete lange Zeit: Das Team, das über das höchste Budget verfügt und am ehesten zu entwickeln beginnt, gewinnt. In der Blütezeit leisteten sich manche Kampagnen sogar den Bau von zwei Booten, um gegeneinander testen zu können. So ließen sich Segel, Crew und nicht zuletzt die Zuverlässigkeit optimieren.
So gesehen müsste das US-Team 11th Hour von Charlie Enright eigentlich unschlagbar sein. Direkt als bekannt wurde, dass das Ocean Race auf die Imoca 60 als Klasse setzte, kauften sie eine der schnellsten existierenden Yachten: Alex Thomsons „Hugo Boss“. Sie nutzen sie als eine Art Forschungsschiff und entwickelten mit Topdesigner Guillaume Verdier aufgrund der Erkenntnisse ihre neue „Malama“, die auch als Erster der vier Neubauten im jetzigen Rennen fertig war.
Doch man darf bezweifeln, dass die alten Regeln für die neue Klasse weiterhin gelten. Denn die Imocas unterliegen einem rapiden Wandel. Es ist die wohl innovativste Offshore-Klasse überhaupt. Beim letzten Aufeinandertreffen aller fünf Boote, dem Défi Azimut, gewann Enrights Team zwar, 11th Hour war aber nicht deutlich überlegen. Die bisherigen Topboote „Apivia“ und „Linked Out“ sahen immer noch schneller aus. Und die neueren Ocean-Race-Rivalen „Holcim – PRB“ und „Biotherm“ glänzten bei der Route du Rhum mit Topleistungen. Es wird also absehbar spannend!
Skipper Charlie Enright startet nach zwei mäßig erfolgreichen Volvo-Kampagnen („Alvimedica“, „Vestas 11th Hour“) nun erstmals als Mitfavorit. Er hat ein erprobtes Boot, ein gutes Budget, eine starke Crew. Doch der Vorsprung relativiert sich, weil andere Teams mehr Imoca-Knowhow mitbringen und ebenfalls fähige Boote pilotieren. Siegerfahren ist Skipper Enright nicht, dafür ist sein Navigator Simon Fisher eine Volvo-Ikone: „Sci-Fi“, wie ihn alle nennen, war fünfmal dabei, einmal mit Ian Walkers Siegerteam „Abu Dhabi“. Der Papierform nach liegt 11th Hour Racing leicht vorn. Wie schnell das Boot ist – noch unklar.
Paul Meilhat ist ein Wunderkind der Imoca-Klasse: Er erreicht mit wenig Budget oft phänomenal gute Ergebnisse und war als Co-Skipper bei Zweihand-Rennen immer enorm stark. Ein Route-du-Rhum-Sieg 2018, ein zweiter Platz beim Transat Jacques Vabre 2020, eine vielbeachtete, wenn auch vorzeitig beendete Vendée-Globe-Teilnahme sprechen für ihn. Im November segelte er bei der Route du Rhum mit einem erst fünf Wochen alten Boot auf Platz sechs, fast gleichauf mit Kevin Escoffier. Zwar ist sein Boot am wenigsten erprobt, kurz vor dem Rennstart wurden sogar noch strukturelle Verstärkungen nachlaminiert, doch mit Sam Davies und Damien Seguin hat sich Meilhat kurz vor Rennstart einiges an Erfahrung ins Boot geholt. Sofern sich diese gut ins Team einfügt und bei den wichtigen Etappen mit an Bord ist, hat das Team realistische Chancen aufs Podest.
Einziges älteres Design am Start ist die 2015er „Hugo Boss“, die zuletzt 11th Hour als Entwicklungsplattform diente. Dank aktueller Foils gilt sie als sehr schnell, kann mit den Neubauten aber nicht ganz mithalten, auch weil Mittel und Personal für die neueste Autopilot-Technologie fehlen. Dafür gilt das mehrfach verbesserte Boot als kugelsicher. Dutreux ist ein hochtalentierter Skipper (Neunter bei der Vendée, Achter bei der Route du Rhum). Die Deutschen an Bord, Robert Stanjek und Phillip Kasüske, haben wenig Langstreckenerfahrung, aber Biss und Feingefühl. Nicht zu unterschätzende Underdogs, die gerade in den ersten Etappen, in denen “Malizia Seaexplorer” und “Biotherm” möglicherweise ihre Boote nach Last-Minute-Reparaturen noch etwas vorsichtiger segeln, anzugreifen. Das das Boot schnell ist, hat es bewiesen, es hält bis heute den 24-Stunden-Rekord für einen Open 60 - allerdings einhand.
Der fulminante vierte Platz mit dem neuen, kaum optimierten Boot bei der Route du Rhum hat klargemacht: Kevin Escoffier wird seinem Ruf als Mann mit eiserner Disziplin und Technikverstand einmal mehr gerecht. Sein Verdier-Design ist pfeilschnell, der Skipper pusht enorm hart und hat so ganz nebenbei zwei Volvo-Teilnahmen im Lebenslauf, darunter den Sieg 2018 mit „Dongfeng“. Er hat Charme und Witz, aber auch einen unbeugsamen Willen. Nicht einmal der Verlust seiner „PRB“ im Südpolarmeer bei der letzten Vendée beeindruckte ihn groß. Nominierte seine Crew als Letzter. Will – und kann – noch mal gewinnen. Der Franzose hat es trotz der späten Entscheidung das Ocean Race zu segeln geschafft, ein scheinbar zuverlässiges Boot im ersten Anlauf zu bauen. Das macht ihn neben “11.th Hour ”zu einem echten Mitfavoriten. Mit Sanni Beucke ist spät und überraschend eine deutsche Olympia-Teilnehmerin ab dem Kap Verden an Bord, damit dürften auch die deutschen Fans mit “Holcim PRB” mitfiebern.
Das erste Team unter deutscher Flagge nach dem „Illbruck“-Sieg 2002 startet mit hohen Erwartungen. Das brandneu entwickelte Boot schwächelte zuletzt wegen kleiner technischer Maleschen und musste kurz vor dem Start wegen eines strukturellen Schadens die Foils austauschen. Verbaut sind nun die eher c-förmigen eines ganz anderen Designs. Das Team berichtet zwar von sehr vielversprechenden Test, aber man muss wohl abwarten, wie gut die Ersatzfoils wirklich funktionieren. Daher ist die Leistungsfähigkeit im Vergleich zur Konkurrenz derzeit schwer einzuschätzen. „Malizia – Seaexplorer“ werden Vorteile im stürmischen Süden zugeschrieben, dafür hat Boris sie optimiert. Ihr Potenzial bei Leichtwind ist noch unklar. Skipper und Teamchef Boris Herrmann agierte bei der Route du Rhum vorsichtig, hat aber fürs Ocean Race hohe Ziele gesteckt. Die Crew ist hochklassig und vereint Figaro- wie Imoca-Expertise. Top-3-Kandidat.
Hier geht es zu den Büchern von Ausnahme-Segler Boris Herrmann.