Me-too-Vorwürfe wiegen schwer, für die Betroffenen ebenso wie für die Beschuldigten. Und es ist gut, dass sie heute nicht mehr achselzuckend wegignoriert oder bagatellisiert, sondern bei Bekanntwerden ernst genommen und untersucht werden. Das Problem dabei: Bis zu ihrem Nachweis gilt eigentlich die Unschuldsvermutung, die in der öffentlichen Diskussion freilich allzu schnell vernachlässigt wird.
Im Fall von Kevin Escoffier dauerte es von dem angeblichen Übergriff bis zur Vorverurteilung nicht einmal zwei Wochen. Mitte Mai vorigen Jahres, beim Etappenstopp von The Ocean Race in Newport, soll der damalige “Holcim – PRB”-Skipper in einer Bar die Mitarbeiterin einer PR-Agentur begrapscht haben. So jedenfalls schilderte es die 30-Jährige gegenüber Mitgliedern des eigenen und anderer Teams, ohne freilich zur Polizei zu gehen oder bei ihrer Rückkehr nach Frankreich dort Anklage einzureichen.
Binnen weniger Tage entwickelte der Vorgang eine erschreckende Eigendynamik. In Lorient, dem Zentrum des französisch geprägten Hochseesports und der Heimat von Kevin Escoffier, war bald von einer Schlägerei die Rede; zahlreiche andere, immer wildere Deutungen zirkulierten, während die Teilnehmer des Ocean Race auf dem Nordatlantik neue 24-Stunden-Rekorde aufstellten.
Bei der Ankunft im dänischen Aarhus wurde der mutmaßliche Vorfall rasch Hauptgesprächsthema. Der Weltseglerverband schaltete sich ein; er war von konkurrierenden Teams informiert worden. Auch die Organisatoren von The Ocean Race sahen sich plötzlich unter Druck.
Um seine Equipe zu entlasten und weil sein Sponsor darauf drängte, trat Kevin Escoffier am 3. Juni von seinem Posten als Skipper zurück. Ein Schritt, der ihm später wahrheitswidrig als Schuldeingeständnis ausgelegt wurde. Denn der Bretone, bei der Vendée Globe zum Nationalhelden erkoren, weil er den Untergang seines Imocas im Südmeer mit einem Lächeln quittierte, beteuerte stets, dass an den Vorwürfen nichts dran sei.
Das hielt den Präsidenten der FFVoile, Jean-Luc Denéchau, gleichwohl nicht davon ab, der Sache eine große Tragweite zu geben. In einem Interview mit der Tageszeitung “Le Télégramme” sagte er bereits am 4. Juni, nur einen Tag nach Escoffiers erzwungenem Rücktritt, er werde den Vorfall dem Sportministerium melden: „Es ist meine Pflicht als Präsident, angesichts dieser Situation mit größter Entschlossenheit zu handeln.”
Es klang wie ein Schuldspruch: keine Relativierung, dass der Skipper einstweilen als unschuldig zu gelten habe, dass erst eine umfassende Untersuchung abgewartet werden müsse, kein Hinweis darauf, dass es nicht einmal Augenzeugen gab, die den angeblichen Vorfall bestätigen konnten.
Nun kann man einem Verbandschef nicht vorwerfen, wenn er bei Me-too-Vorwürfen rasch handelt. Das ist in der Tat seine Pflicht. Viel zu lange blieben gravierende Fälle von sexuellem Missbrauch ungeahndet, auch im Sport. Doch muss ein Funktionär in so herausgehobener Position seine Worte mit Bedacht wählen und darf keinesfalls den Eindruck erwecken, als stehe der Täter schon fest. Im Übrigen hätte er die eigentliche Aufarbeitung des Falls den Justizbehörden überlassen können, und erst im Anschluss über Sperren befinden können, so sie denn überhaupt angezeigt gewesen wären. Doch Denéchau wollte Handlungsfähigkeit demonstrieren.
Entgegen seiner markigen Ankündigung, „mit größter Entschlossenheit zu handeln“, vergingen danach Monate, bis die FFVoile zu einem ersten Urteil kam. Denn der Fall erwies sich als keinesfalls eindeutig.
Erst am 16. Oktober verhängte die Nationale Disziplinarkommission Sanktionen gegen Kevin Escoffier, darunter ein 18-monatiges Verbot zur Teilnahme an Regatten und einen fünfjährigen Entzug seiner Lizenz auf Bewährung.
Die Kommission sah es als erwiesen an, dass ihre Untersuchung „ein unangemessenes Verhalten sexistischer oder sexueller Natur von Herrn Kevin Escoffier gegenüber mehreren Frauen und bei mehreren Veranstaltungen belege“, so hieß es in der dürren Begründung.
Der Skipper habe „einerseits die Ehre, den Anstand sowie die sportliche Disziplin und andererseits die Würde und die psychologische Integrität von Personen verletzt, die an Aktivitäten im Zusammenhang mit dem Segelsport insbesondere im Bereich des Hochseesegelns beteiligt“ seien.
Es klingt wie die notwendige Strafe gegen einen Übergriffigen, der reihenweise Frauen bedrängt. Tatsächlich aber bezieht sich das Urteil auf die Berichte von nur fünf angeblich Betroffenen. Zwei der Vorkommnisse lagen bereits fünf Jahre zurück und wurden erst im vorigen Sommer gemeldet, als der Fall Escoffier Schlagzeilen machte. Zwei erscheinen mehr als fragwürdig, weil sie durch die Aussagen mehrerer Zeugen widerlegt werden.
Die Schilderungen eines ehemaligen Teamchefs, der beim Volvo Ocean Race 2017/18 angeblich von drei Vorfällen Kenntnis erhalten haben will, sie zur damaligen Zeit aber nicht zur Anzeige brachte, waren derart vage, dass sie von der Disziplinarkammer im Berufungsverfahren nicht weiterverfolgt wurden.
Wie häufig bei Me-too-Vorwürfen ist die Rekonstruktion schwierig bis unmöglich. Das gilt auch für die beiden nicht zweifelsfrei belegbaren Fälle, die Kevin Escoffier zur Last gelegt wurden und in denen Aussage gegen Aussage steht. Für den mutmaßlichen Vorfall in Newport gab es ebenso wenig Augenzeugen wie für einen angeblichen Übergriff in Brasilien beim Volvo Ocean Race 2018.
Die Indizien, darunter WhatsApp-Nachrichten, E-Mails, Gedächtnisprotokolle und Aussagen von nicht unmittelbar Beteiligten, die der YACHT vorliegen, lassen erhebliche Zweifel daran aufkommen, ob es überhaupt zu Übergriffigkeiten gekommen war und falls ja, in welchem Umfang.
Das Frappierende ist: Der Seglerverband berücksichtigte die Lücken in der Argumentation der vermeintlich Betroffenen oder deren offensichtliche Unwahrheit nicht angemessen. Andernfalls wären die Sanktionen, welche die Disziplinarkammer verhängte, nicht zu rechtfertigen gewesen.
Virginie Le Roy, die Anwältin von Kevin Escoffier und selbst engagierte Frauenrechtlerin, zeigte sich über die Untersuchung des Verbands ebenso wie über die von ihm verhängten Sanktionen regelrecht erschüttert. „In Wirklichkeit beruhen die Entscheidungen der Disziplinarorgane nur auf unbewiesenen Annahmen“, sagt sie. Die „Beweisführung“ sei nach dem Prinzip erfolgt, dass “wo Rauch ist, auch Feuer sein müsse“, nicht nach den Regeln eines fairen Verfahrens.
„Die vom Verbandspräsidenten mit großem Kommunikationsaufwand und zweifellos aus politischer Absicht eingeleiteten Verfahren waren besonders schädlich und schwerwiegend“ für ihren Mandaten, so die Juristin. Kevin Escoffiers Unschuldsvermutung ist „in dem Maße verletzt worden, wie der Verband den Anschuldigungen gegen ihn Glauben schenkte“.
Die Schiedskommission des Nationalen Olympischen Komitees Frankreichs, die am 15. März schwere Verfahrensfehler und einen Mangel an konkreter inhaltlicher Begründung für die Sanktionen monierte, gibt Virginie Le Roy recht. Die Ausführungen des Vorsitzenden, Bernard Foucher, stellen dem Seglerverband ein denkbar schlechtes Zeugnis aus.
Dessen Präsident aber deutete das Ergebnis vorige Woche in seinem Sinne um. In einer Pressemitteilung, die einer Rechtfertigungsrede glich, verkündete Jean Luc Denéchau einerseits, dass er die Sperren gegen Kevin Escoffier zwar mit sofortiger Wirkung aufheben werde, bekräftigte andererseits aber die Arbeit der Disziplinarkammer.
So heißt es gleich eingangs, der Verband stelle „mit Genugtuung fest, dass der Schlichter in Anbetracht der ihm zur Kenntnis gebrachten Beweise der Auffassung ist, dass der FFVoile berechtigt war, ein Disziplinarverfahren gegen den Kläger einzuleiten”.
Dass es gravierende Verfahrensfehler gab, weil die Zeugenvernehmung unter Ausschluss des Angeklagten und seiner Anwältin stattfand, was einen klaren Rechtsbruch darstellt, „nimmt der Verband zur Kenntnis“, heißt es in der ansonsten wortreichen Erklärung.
„In Bezug auf die Rüge der mangelhaften Begründung des Entscheids“ stellt der Verband fest, dass es „nicht Sache der Disziplinarorgane der Verbände ist, das laufende Gerichtsverfahren zu ergänzen oder den Sachverhalt als strafrechtlich zu qualifizieren“. Das freilich verlangte weder der Schlichter des Olympischen Komitees noch Escoffiers Anwältin.
Gegenüber “Le Télégramme” bekräftigte Jean-Luc Denéchau ohne erkennbare Selbstzweifel, dass der Verband „seine Arbeit getan hat“. Die Verbände, sagte er, stünden „an vorderster Front. Wenn es darauf ankommt, müssen sie als Erste reagieren.“
In der Stellungnahme bekräftigte er „seine Bereitschaft, sich weiterhin mit vollem Umfang für die Prävention und Bekämpfung von Gewalt, insbesondere sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt, einzusetzen“. Markige Worte, die Entschlossenheit signalisieren und im Subtext wie ein „Jetzt erst recht“ klingen.
Diese Darstellung veranlasste Virginie Le Roy, die Anwältin von Kevin Escoffier, ihrerseits zu einem Statement, das im Vergleich deutlich kürzer ausfiel. „Es ist besonders bedauerlich, dass die FFVoile, anstatt ihre Fehler einzugestehen, die Pressemitteilung dazu nutzt, die Stellungnahme des Olympischen Komitees mit Hilfe zahlreicher Lügen und Widersprüche zu verfälschen.“
Wenn die FFVoile die Strafverfolgung einstellt, dann deshalb, weil sie nicht in der Lage ist, auch nur die geringste gegen Kévin Escoffier vorgebrachte Anschuldigung ernsthaft zu belegen“
Die Behandlung dieses Falls bezeichnete die Juristin als „abnormal und dysfunktional“. Die Pressemitteilung sei „eine Fortsetzung davon, da sie politisch und heuchlerisch ist, und dies auf Kosten einer Instrumentalisierung des Opferschutzes“. Ihr Mandant, so betonte sie, habe „die gegen ihn erhobenen Anschuldigungen stets bestritten und wird bis zum Ende gehen, um seine Unschuld zu beweisen“.