Am kommenden Wochende, 16. und 17. August, läuft die große SailGP-Segelshow vor Sassnitz. Tausende Fans werden die Mole und die Tribünen bevölkern (hier zum kompletten Programm). Noch viel mehr Interessierte werden das Geschehen am Bildschirm verfolgen. Denn Dank der ausgereiften Übertragungstechnik wird Segeln dort zum Thriller. Dahinter steht jeoch viel Arbeit und Know-How. Annika Möslein, 28, ist Technologie-Leiterin in Oxford. Neben ihrer Promotion in Ingenieurwissenschaften war sie für die internen 3D-Grafiklösungen für den Live-Broadcast von SailGP in London verantwortlich. Sie ist selbst Regattaseglerin, nahm unter anderem als erste Deutsche am Ocean Race Europe 2021 teil. Auf Törns in der Arktis setzt sie sich zudem für den Meeresschutz ein. Sie berichtet von einem “ganz normalen” Tag hinter den Kulissen des SailGP:
Noch drei Sekunden bis zum Start. Live-Kommentator Stevie Morrison, der seit geraumer Zeit schon das Ringen der Teams um die beste Position erläutert, dreht jetzt richtig auf: „Wie ist das Timing von Neuseeland? Die Linie wird weiß, Go-Time! Wir sind im Rennen! Was für ein Start der Spanier, so eng und doch perfekt gemacht! Die Deutschen innen, die Kanadier mit großartiger Geschwindigkeit, direkt auf den Foils, finden sie die Lücke und ziehen an Spanien vorbei!“ Während Morrison beim Reden kaum noch Luft holt, schießt bei den Seglern das Adrenalin durch die Adern. Ihre F50-Katamarane beschleunigen auf 40 Knoten Speed, nehmen Kurs auf die erste Bahnmarke.
Tausende Kilometer entfernt, mit Headsets versehen und gebannt vor einer Wand voller Bildschirme sitzend, steigt auch bei uns der Puls. Nach einem schnellen Blick aufs Renngeschehen gebe ich Anweisungen ins Mikrofon: „Heli für LiveLine – bleib auf der Außenseite, etwas höherer Winkel für die Skyline im Hintergrund. Jetzt beschleunigen, wir haben Wasserreflexion. Und 15 Meter höher für das Sponsorenlogo bei der ersten Tonne!“
Nun ein Datastream-Check: Stimmen die Winddaten in den Vektoren? Ist die Kompassrose gut sichtbar? Rasch wird das Logo auf der virtuellen Bahnbegrenzung nach zehn Sekunden Sendezeit gewechselt. Dann die Geschwindigkeiten der Boote unter deren Flaggen einblenden. „Heli für LiveLine – Achtung, gleich spannende Kreuz zwischen Großbritannien und Spanien!“
Wir sind im Broadcast-Studio in London, von wo aus die Live-Bilder vom SailGP in 212 Regionen weltweit in Echtzeit übertragen werden. Auch die Schiedsrichter und Kommentatoren sitzen hier und nicht etwa vor Ort in Neuseeland, Saint-Tropez, New York, Dubai, Sassnitz oder wo der SailGP sonst noch so alles ausgetragen wird. An ihrer Seite Software-Teams, Produzenten, Direktoren. Trotz der teils gewaltigen Entfernungen zu den jeweiligen Austragungsorten sind wir hier, hinter den Kulissen, mitten im Geschehen. Je nach Zeitunterschied nicht selten auch tief in der Nacht. Knapp 300.000 Daten pro Sekunde erreichen uns von der Regattabahn. Diese werden in Echtzeit verarbeitet, um Tracking, Analyse und Visualisierung zu ermöglichen.
Vor meinen Kollegen und mir reihen sich die Bildschirme neben- und übereinander. Darauf die Trackingdaten von den F50s und den Helikoptern, Sensordaten von Athleten, Booten und Tonnen, Kameraeinstellungen und Live-Bilder, Kalibrierungsdaten und im Mittelpunkt die Control Unit für LiveLine. Diese hauseigene Lösung projiziert 3D-Grafiken direkt ins Regattafeld.
Auf dem blaugrauen Wasser werden Kursbegrenzungen, wechselnde Sponsorenlogos, Start-, Anliege- und Leiterlinien sowie animierte Windfelder eingeblendet. Mittendrin die „echten“ F50-Kats, versehen mit virtuellen Länderflaggen und spezifischen Bootsdaten über den Masttopps.
LiveLine vermittelt den Zuschauern, die die Rennen am Fernseher oder Computer, am Tablet oder Smartphone oder aber vor Ort auf einer Großbildleinwand mitverfolgen, einen umfassenden Überblick über das Geschehen auf dem Wasser. Ohne all die grafischen Hilfslinien und Daten auf dem Bildschirm wäre es kaum möglich, die Positionen, Abstände und Geschwindigkeiten der Boote oder deren Kurse zum Wind abzuschätzen. Nun ist anhand der Grafiken jederzeit klar, wer gerade führt oder wer eine Chance hat, einen nahenden Winddreher am besten zu nutzen.
Herzstück der Technologie ist die exakt aufeinander abgestimmte mathematische Kalibrierung aller eingehenden Daten. Denn: Wenn alle Objekte beweglich sind, gibt es keine fixen Referenzpunkte. Die Segler bewegen sich auf ihren Booten. Die Boote rasen in der Spitze mit über 50 Knoten über die Bahn. Auch viele Tonnen, die mit Mess- und Kommunikationsgeräten bestückt sind, sind nicht verankert, sondern werden ferngesteuert auf ihre Positionen gebracht. Und die Arena selbst bewegt sich im Rhythmus der Wellen auf und ab. Die Live-Bilder wiederum werden von schwankenden Kamerabooten und von über dem Geschehen kreisenden Helikoptern geliefert. Kurz, alles bewegt sich in allen Dimensionen.
Schon die kleinste Kalibrierungsabweichung oder auch Zeitverzögerung kann zu gravierenden Fehlern führen. Die saubere Anordnung der aufs Wasser projizierten Linien, Pfeile und Vektoren würde komplett durcheinandergeraten und den Zuschauern vor den Bildschirmen schwindelig werden.
Das SailGP Technology Team verbringt daher Tage vor jedem Event mit der Installation, Kalibrierung und Tests unzähliger Sensoren, die jede Bewegung erfassen und auswerten. Ich erinnere mich noch an die ersten Rennen, etwa 2019 in Cowes. Damals reisten wir mitsamt Übertragungs-Equipment zu den Austragungsorten, richteten nicht nur Sensoren und Netzwerke ein, sondern bauten auch jedes Mal unsere gesamte IT-Infrastruktur neu auf. Zwischen Kabelverbindungen, Sensorinstallation, Kalibrierung und manchmal vor Hitze schmelzenden Servern arbeiteten wir unermüdlich an der Visualisierung und Datenanalyse, teilweise mit stundenlanger Fehlersuche.
Seither hat sich viel verändert : Das LiveLine-Team hat seinen festen Sitz in London und ist zum Vorreiter geworden für Live-Produktionen aus der Ferne. Gut 100 Leute sorgen in einem unscheinbaren Bürogebäude im Westlondoner Stadtteil Ealing dafür, dass Segelfans in aller Welt die SailGP-Rennen mitverfolgen können. In den modernen Studios werden auch Fußball-oder Cricket-Übertragungen produziert. Oder Interviews mit dem britischen Premierminister.
Damit all die Daten vom jeweiligen Austragungsort in die britische Metropole gelangen, ist eine schnelle und robuste Internetverbindung unerlässlich. Mancherorts wurde dafür erst eigens Glasfaser kurz vor dem Rennen verlegt. „Da ja aber auch auf dem Wasser Daten, Positionen und Kommunikation in Echtzeit entscheidend sind, wird draußen auf dem Regattafeld ein 5G-Netzwerk aufgebaut“, erklärt Tom Peel, Direktor von LiveLine. Auf diese Weise werden in Echtzeit Interviews zwischen Kommentatoren und Athleten verzögerungsfrei gezeigt. Oder 1,15 Milliarden Datenanfragen pro Stunde transferiert.
Inzwischen ist die Technologie etabliert. Ein 15-köpfiges Team ist nun damit beschäftigt, sie fortlaufend um neue Features zu erweitern. Derweil läuft jede Live-Sendung hochprofessionell ab – es fühlt sich an wie im NASA-Kontrollzentrum. Während der Wettfahrt spreche ich über Headset mit den Helikopterpiloten und -kamerateams, um den optimalen Blickwinkel für die Grafiken zu erhalten. Mein Kollege Tom kommuniziert zeitgleich mal mit den Software-Teams in London und den Hardware-Teams vor Ort, um Sensoren zu kalibrieren, mal mit der Wettfahrtleitung, um Kursänderungen abzusprechen.
Das Aufregendste aber ist nach wie vor die Echtzeit-Steuerung der visuellen Elemente: Jede einzelne grafische Komponente will präzise kontrolliert sein. Denn: Ich teile meinen Bildschirm direkt im Livestream. Jeder Fehler wäre sofort weltweit sichtbar!
Während ich Codes ins System eingebe, verfolge ich über mein Headset die Anweisungen unseres Executive Producers Chris Carpenter: „Off Live-Line – zu Chaseboat 1 – zurück zu Live-Line in 5!“ Heißt fünf Sekunden, um Logos zu wechseln oder Elemente zu adjustieren. Für mich als Seglerin ist die Live-Datenanalyse besonders spannend. Die Daten der Boote und Tonnen beobachtend können wir die Story mitgestalten, indem wir Elemente wie Abstandslinien ein- oder ausblenden oder Hinweise an die Kommentatoren geben: „Kommentator für LiveLine – Winddreher 10 Grad, auf linker Kursseite, Spanien im Vorteil!“
Die Rolle, die die Visualisierungssoftware spielt, wird vor allem dann sichtbar, wenn sie einmal nicht gezeigt werden kann. Oder darf. Die Zuschauer an den Bildschirmen sehen dann nur noch bunte Boote auf einer großen blauen Wasserfläche. Im Extremfall bleibt auch der Überblick aus der Luft aus. Etwa wenn in New York der Luftraum gesperrt wird, weil der US-Präsidentenhubschrauber einfliegt. Oder weil Wale in der Bucht von San Francisco so lange die Regattabahn blockieren, bis den Helis der Sprit ausgeht und sie an Land zurückkehren müssen.
Neue Visualisierungstechniken sollen künftig auch solche Herausforderungen meistern. „Inzwischen operieren wir mit 3D-Grafiken von drei verschiedenen Kameras“, so Tom Peel. „Insgesamt produzieren wir mehr als 20 Grafik-Outputs und Services, mit unterschiedlichen Sprachen und Sponsoren-Optionen.“ 2025 folgte schließlich die sogenannte Tabletop-VR-Lösung – das Spielfeld kam buchstäblich auf den Tisch.
Wie wichtig 3D-Grafiken auch für andere Sportübertragungen sind, wurde unlängst erkannt ; die SailGP-Technologie gewann nicht nur Preise wie den Emmy Award, sondern sie wird auch für Events wie die Olympischen Spiele genutzt oder von anderen Sportarten wie Pferderennen adaptiert. Dort, wo es weder Spielfeldbegrenzungen noch Stadien gibt, kann ein erlebbares Spielfeld geschaffen werden.
Im Studio bereitet Ellen Morley, eine der heutigen LiveLine-Operatoren, den Zieleinlauf vor: „Heli für LiveLine – Tonnenrundung USA und Spanien, dann Zieleinlauf Neuseeland in 5.“ Sie checkt rasch, ob die Zielflagge sichtbar ist, dann laufen auch schon die letzten Sekunden des Rennens. Kurz darauf kommt von Chris übers Headset : „Live-Line off!“ Der Live-Feed wechselt zur Kamera an Bord des jubelnden Teams. Wir atmen durch. Ein paar Minuten bleiben uns bis zum nächsten Start.
Am Ende des Tages freuen wir uns über eine erfolgreiche Show. Denn neben der sportlichen Herausforderung für die Athleten ist der SailGP für die Zuschauer auch das: eine tolle Show, die sowohl Segler als auch Nichtsegler verstehen und mit Begeisterung mitverfolgen können.
Wie bei vielen guten Ideen kam der zündende Gedanke während einer Nachtwache: Es ist 1983 im Transpacific Race, irgendwo zwischen Los Angeles und Honolulu. Auf der „Charly“ sind deren Eigner Nolan Bushnell und sein Navigator Stan Honey in den frühen Morgenstunden an Deck und bestimmen die Position mit Sextant und der Kunst des Koppelns.
Stan, Ingenieur in Silicon Valley, bringt das allererste computerbasierte Marine-Navigationssystem mit an Bord, das er mit seinem Kollegen Ken Milnes entwickelt hat : Mithilfe von Sensordaten des Bootes werden die Kurse berechnet. Zwar funktioniert es gut genug, um „Charly“ zum Sieg zu verhelfen. Doch das stete Auf und Ab der Wellen macht die Positionsbestimmung schwer. An Land wäre das doch viel einfacher!
Und so beginnen die beiden, über Navigationssysteme für Autos nachzudenken. Bald darauf entsteht Etak, benannt nach dem polynesischen Begriff für einen beweglichen Referenzpunkt in der Navigation auf hoher See. Die Technologie ist damals ihrer Zeit lange voraus. Erst in den Neunzigern kommen GPS-basierte Systeme auf den Markt. Die Etak-Erfinder müssen zudem für ihr System erst noch selbst Landkarten digitalisieren. Etak wird später ein Teil von TomTom, und die Algorithmen sind noch heute Teil jener App, die heute viele Menschen im Auto oder auf dem Handy haben. Stan und Ken bringen weiterhin Navigation, Sensorik und Visualisierung zusammen, legen im Eishockey einen virtuellen „Heiligenschein“ um den Puck. Das ist der Startschuss für Sport-Tracking im Fernsehen.
Stan bringt schließlich seine Passion für Segeln und Navigationstechnologie zusammen und wird Director of Technology für den America’s Cup. Er entwickelt ein System, das Boote mit einer bewegten Kamera mit einer Genauigkeit von zwei Zentimeter, fünfmal pro Sekunde, verfolgt. Live-Videos werden nun in Echtzeit mit Grafiken überlagert – Live-Line ist geboren. Seither wird die Technologie für SailGP weiterentwickelt.