Tatjana Pokorny
· 31.07.2021
Die deutschen Skiff-Asse haben am Samstag bei der Olympia-Regatta wieder gestochen – die Damen mehr als die Herren. Beide haben sich Medaillenchancen erkämpft
Zuletzt hatten deutsche Segler sich bei den Olympischen Spielen in Sydney 2000 so viele Chancen auf Medaillen erarbeitet wie aktuell in Enoshima. Viermal Hoffnung auf Edelmetall war am Samstagabend aus Enoshima zu vermelden. Dazu hatte bereits am Vortag Philipp Buhl mit seinem krassen Ritt durch den Finaltag (32., 1.) und Platz vier vor dem Medaillenfinale der zehn besten Lasersegler am Sonntag ab 14.30 Uhr Ortszeit (7.30 Uhr deutscher Zeit) beigetragen. Heute zogen die Teamkameraden nach. Besonders effektiv gelang das den 49erFX-Seglerinnen Tina Lutz und Susann Beucke. Das Duo agierte derart effizient, dass Trainer Barker sie nach den Rennen im Olympiahafen in den Arm nahm. Das tut der zurückhaltende und sachlich orientierte Ian Barker sonst eher selten bis nie. Seine Schützlinge hatten sich die besondere Respektbekundung verdient. Mit den Rängen 7, 3 und 3 rückten Tina Lutz und Susann Beucke pünktlich vor dem Finale am Montag auf Platz drei in ihrer Skiff-Flotte vor.
Zusätzliche Motivation für diesen vorentscheidenden Tag um die 49erFX-Medaillen hatten Tina Lutz und Susann Beucke auf dem Weg nach draußen zu ihrem Kurs "Kamakura" noch von ihrem Teamkameraden Erik Heil erhalten. Der rief ihnen zu, dass die in leichten Winden erst verschobenen und dann neu angesetzten drei wichtigen Rennen des Tages nicht nachgeholt werden, sollten sie ganz entfallen. "Das hat uns noch einmal mehr kämpfen lassen, als die Rennen dann wirklich stattfanden", erzählte Susann Beucke am Abend. "Wir sind mit 20 Punkten Rückstand nach vorn in den Tag gegangen und wussten, dass wir diese Rennen unbedingt brauchen und nutzen müssen, um den Rückstand vor dem Finale zu verringern. Jetzt haben wir wieder eine Chance." Worauf, das spricht weder sie noch Tina Lutz aus – nicht weniger als Gold, Silber oder Bronze sind ganz nah gerückt. Gedanken daran, dass der letzte deutsche Olympiasieg 25 Jahre her ist, wollen die Skiff-Akrobatinnen aber gar nicht erst zulassen. Jochen Schümann, Thomas Flach und Bernd Jäkel segelten 1996 auf ihrer Soling "Extra 3" zum letzten Olympiasieg für die DSV-Flotte. "Man muss alle Gedanken an eine Medaille aus dem Kopf verbannen, wenn man das Finale erfolgreich segeln will", verordnete Tina Lutz sich und ihrer Vorschoterin.
Die Ausgangsposition für das GER-Frauen-Skiff ist aber mindestens vielversprechend: Tina Lutz und Susann Beucke haben als Dritte mit 73 Punkten auf dem Olympia-Konto nur drei Zähler Rückstand auf die puntgleich vor ihnen liegenden holländischen Doppel-Weltmeisterinnen Annemiek Bekkering und Annette Duetz sowie die brasilianischen Titelverteidigerin Martine Grael (beide 70 Punkte). Das macht im doppelt gewerteten Medaillenfinale einen Unterschied von zwei Plätzen, die Lutz/Beucke auf die führenden Teams gutmachen müssten, um noch ganz vorn zu landen. Dabei droht allerdings auch Gefahr von hinten, denn ihren aktuellen vierten Platz, den sie schon am Ende der olympischen Regatta vor fünf Jahren belegte, will Tamara Echegoyen nicht noch einmal behalten. Die prominente wie sympathische Matchrace-Olympiasiegerin, Weltumseglerin und 49erFX-Weltmeisterin hat sich mit ihrer Vorschoterin Paula Barcelo viel vorgenommen für das Skiff-Finale der Frauen am 2. August: "Wir werden alles für eine Medaille tun." Die Spanierinnen starten mit vier Punkten Rückstand auf Tina Lutz und Susann Beucke ins Finale. "Von Platz eins bis Platz sieben ist noch alles möglich", sagte angesichts der eng beieinander liegenden Spitze und des dichten Verfolger-Feldes Susann Beucke. Wie die beiden deutschen Medaillenjägerinnen das Finale angehen wollen, ist schon klar. Susann Beucke sagt: "Wir sind heute mutig gesegelt und müssen es am Montag noch einmal genauso extrem mutig angehen." Tina Lutz bringt es auf den Punkt: "All in!"
"All in" gilt für Erik Heil und Thomas Plößel noch ein bisschen mehr, denn ihr Rückstand auf Silber oder Bronze beträgt vor dem Finale zehn Punkte, auf die führenden neuseeländischen Top-Favoriten Peter Burling und Blair Tuke sogar 14 Punkte. Die Kiwis führen das Klassement nach schwachen Olympia-Auftakt einmal mehr an, haben 52 Punkte auf dem Konto. Dahinter liegen die Briten Dylan Fletcher und Stuart Bithell sowie die Spanier Diego Botin Le Chever und Iago Lopez Marra mit jeweils 56 Punkten auf den Plätzen zwei und drei. Die Aufgabe für die deutschen Rio-Bronzemedaillengewinner ist daher größer als die der FX-Frauen, doch die Chance auf eine Medaille lebt. Vorschoter Thomas Plößel setzt auf Rückenwind aus Rio: "Wir werden am Montag nicht so zittrig auf dem Boot stehen wie damals in Rio. Dieses Mal nicht. Da hilft die Erfahrung."
Die Enttäuschung seines Teams über ein verpatztes Rennen von dreien am Samstag konnte Plößel nicht ganz verdrängen: "Da gab es einen internen Abstimmungsfehler in der Vorstartphase von Rennen elf, als wir uns noch auf ein taktisches Duell mit den Japanern eingelassen haben. Da haben wir uns in der Zeit verschätzt, denn mit ihnen noch eine Halse zu fahren und dann in Lee reinzuknallen, das funktioniert in leichten Winden eben nicht so gut wie in mehr Druck. Da sind wir auf der ersten Kreuz aber trotzdem noch ganz gut rausgekommen, auf der zweiten leider nicht mehr." Damit ist der Abstand zu den vorderen Teams größer geworden als erhofft. Dennoch nehmen Heil und Plößel aus dem Vorschlusstag auch die Ränge 2 und 5 und die Erkenntnis mit ins Finale, dass sie nach 20 Jahren in einem Boot zum zweiten Mal ein olympisches Medaillenrennen erreicht haben. "Wir sind stolz darauf, dass wir es wieder in Medaillenreichweite geschafft haben."
Für weitere gute Nachrichten sorgten in der Sagami-Bucht vor Enoshima Paul Kohlhoff und Alica Stuhlemmer. Die Mixed-Katamaran-Segler verteidigten auch in den früher wenig geliebten leichten Winden ihren dritten Platz im Zwischenklassement souverän und segeln drei Rennen vor Schluss der Hauptrunde auf Medaillenkurs. Die Aussichten sind nach der bislang gezeigten Allround-Leistung glänzend. Das gute Gefühl, Teams wie die australischen Silbermedaillengewinner der Olympischen Spiele 2016 oder die argentinischen Olympiasieger Santi Lange und Cecilia Carranza Saroli bislang erfolgreich in Schach gehalten zu haben, verleitet die jüngste Crew im German Sailing Team auch weiterhin nicht zu Übermut. "Für uns war es im Vorfeld sehr schwer abzuschätzen, wozu wir hier imstande sein können, weil wir viele Teams über einen sehr langen Zeitraum nicht gesehen haben", erklärte Vorschoterin Alica Stuhlemmer. "Deswegen ist es erfreulich, was wir bislang geschafft haben.“ Das war die Untertreibung des siebten Tages der Olympia-Regatta. Viel Lob gab es für die Serie guter Ergebnisse ihrer Teammitglieder von DSV-Sportdirektorin Nadine Stegenwalner: "Unsere Teams schlagen sich ganz hervorragend. Dass wir so viel Positives aus Enoshima berichten können, zeigt, dass wir in den vergangenen Jahren wirklich richtig gute Schritte nach vorn gemacht haben.“
Finale Schritte aufs Podium durften am Samstag bereits die RS:X-Windsurfer tun. In den beiden Medaillenrennen fielen die letzten Entscheidungen. Bei den Damen setzte sich im Dreikampf die Chinesin Yunxiu Lu vor der französischen Titelverteidigerin Charline Picon und der Britin Emma Wilson durch. Im Verlauf des Showdowns sorgten mehrere Führungswechsel für Hochspannung. Ganz anders verlief das Finale der Männer. Da wurden gleich drei Medaillenkandidaten aufgrund von Frühstarts diqualifiziert. Während Kiran Badloe seinen Olympiasieg – den dritten in Folge für einen niederländischen Surfer nach zwei Triumphen von Dorian van Rijsselberghe – ohnehin schon sicher in der Tasche hatte, konnte der Franzose Thomas Guyard seine Silbermedaille retten. Der Chinese Kun Bi profitierte vom "Massensterben" der Edelmetall-Anwärter und konnte sein Glück über Bronze kaum fassen. Der Pole Piotr Myszka, der sich noch in Rio de Janeiro so packende Duelle mit Toni Wilhelm geliefert hatte, zählte zu den disqualifizierten Frühstartern, reagierte aber mit der Weisheit eines 40 Jahre alten erfahrenen Wettkämpfers: "Ich habe mich nur gewundert, dass es bei so vielen Frühstartern keinen Generalrückruf gibt. Aber meine Tränen würden ja niemandem helfen. Ich bin trotzdem glücklich, dass ich in meinem Alter noch so wettbewerbsfähig bin."
Und hier noch die TV-Tipps: Live-Übertragung ARD und ZDF (im Wechsel): ARD; ZDF
Termine: 1. August ZDF; 2. August ARD; 3. August ZDF; 4. August ARD
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