Tatjana Pokorny
· 16.03.2022
Für manche Beobachter war die 1963 entworfene olympische 470er-Jolle schon etwas in die Jahre gekommen. Jetzt gewinnt sie als Mixed-Disziplin neue Attraktivität
Keine Nation schickt Anfang April so viele olympisch ambitionierte 470er-Mixed-Teams in den Saisonauftakt-Klassiker Trofeo Princesa Sofía wie Deutschland. Sogar die traditionell im 470er starken spanischen Gastgeber liegen mit ihrem Neun-Boote-Kontingent knapp hinter dem German Sailing Team mit zehn 470er-Mixed-Mannschaften auf der Meldeliste. Das GER-Großaufgebot unterstreicht die neue Attraktivität der 1963 entworfenen Zwei-Personen-Jolle, die 2024 vor Marseille olympische Premiere als Mixed-Disziplin feiern wird.
Noch befinden sich die vielen neu formierten Crews auf der Suche nach dem optimalen Zusammenspiel zwischen einem Segler und einer Seglerin: Sieben der DSV-Crews agieren mit Steuerfrau, drei mit Steuermännern. Beides hat je nach Wind- und Wellenbedingungen sowie in Abhängigkeit von Crew-Gewicht, Größe der Aktiven und Art der Interaktion und Aufgabenverteilung an Bord Vor- und Nachteile. Die bekanntesten gemischten Segel-Doppel unter deutscher Flagge sind aktuell Luise Wanser (Norddeutscher Regatta Verein) mit Philipp Autenrieth (Bayerischer Yacht-Club/Norddeutscher Regatta Verein) und Malte Winkel mit seiner Ehefrau Anastasiya Winkel (Schweriner Yacht-Club/Norddeutscher Regatta Verein).
Ihre Geschichten sind spannend – und werden es bleiben: Bis zu ihrem Einsatz bei den Olympischen Spielen im vergangenen Jahr in Japan, wo Frauen und Männer im 470er noch jeweils eine eigene Disziplin hatten und getrennt voneinander um Medaillen segelten, hatten Luise Wanser und Anastasiya Winkel ein Team gebildet. Während die deutschen 470er-Männer die Olympia-Qualifikation verpasst hatten, konnten sich Wanser/Winkel mit einer überzeugenden Last-Minute-Kampagne in der nationalen Olympia-Qualifikation durchsetzen. Vor Enoshima segelten sie mit starken Leistungen auf Platz sechs. Es war sogar mehr drin, doch eine harte Doppel-Disqualifikation infolge einer 200 Gramm zu schweren Trapezhose verhinderte den möglichen Medaillen-Coup der beiden ehrgeizigen Seglerinnen. Jetzt greifen sie erneut an, aber nicht mehr in einem Boot, weil der 470er künftig olympisch nur noch im gemischten Doppel gesegelt wird. Weshalb sich in aller Welt neue Teams formiert haben. So auch in Deutschland.
Luise Wanser will mit Philipp Autenrieth um nur einen deutschen 470er-Mixed-Startplatz für Olympia 2024 kämpfen, behält dabei das Steuer weiter in der Hand. Ihre ehemalige Vorschoterin Anastasiya Winkel drückt gemeinsam mit ihrem Ehe- und Steuermann Malte Winkel das Gaspedal durch. Schon diese beiden kampfstarken Teams – einst miteinander und nun gegeneinander im Einsatz – werden für packende Duelle sorgen. Doch da sind noch viele hungrige deutsche 470er-Mixed-Crews mehr. So beispielsweise die in der letzten nationalen Olympia-Qualifikation so knapp von Wanser/Winkel geschlagene Theres Dahnke, die mit Malte Winkels ehemaligem Vorschoter Matti Cipra angreift. Die Steuerfrau und ihr Vorschoter kennen sich lange, kommen beide vom Plauer Wassersportverein. Wie sie sind auch Daniel Göttlich und Anna Markfort vom Verein Seglerhaus am Wannsee sowie Theresa Löffler und Christopher Hoerr (Deutscher Touring Yacht-Club/SCBC/CYC) Mitglieder im Perspektivkader des German Sailing Teams, dem es an potenten 470er-Mixed-Kandidaten nicht mangelt.
Als 470er-Mixed-Trainer sind der Brite Steven Lovegrove (Senioren) und Marek Chochian im sich teilweise überschneidenden Einsatz aktiv. Laut vielen Aktiven klappt der flexible Coach-Doppel-Pass bislang gut. „Wir sehen uns in der deutschen Gruppe aktuell gut aufgehoben, bringen in einem starken Team viele unterschiedliche Qualitäten zusammen“, sagt nicht nur Malte Winkel. Luise Wanser bestätigt nach der Testregatta am vergangenen Wochenende: „Wir haben so lange keine Regatta bestritten und haben noch große Fehler gemacht. Wir sind dabei, die unterschiedlichen Regattastile in Einklang zu bringen.“
Alle wissen: Vor dem Team im Aufbruch liegt viel Arbeit. Malte Winkel beschreibt die Herausforderungen anhand der Ereignisse bei der ersten Trainingsregatta vor Mallorca ganz ähnlich wie auch andere Teamkameraden, sagt lächelnd: „Die war schon von so einigen 'Fuck-Ups' begleitet… Uns fehlte oft noch die Ruhe. Viele Situationen haben wir erstmals erlebt. Da waren 40 Boote statt fünf wie im Training. Wenn da die Kommando- und Timing-Struktur noch nicht ganz klar ist, dann kommt schon mal ein Großsegel an der Kreuz von oben. Oder es bricht ein Trapezhaken, was auch nur passiert, wenn man länger nicht Regatta gesegelt ist. In vielen Punkten läuft es aber schon sehr gut. Darauf bauen wir auf.“
Als hospitierender Sport- und Mathe-Lehrer an der Gemeinschaftsschule Friedrichsort nimmt Malte Winkel auf Mallorca seinen Senioren-Status in neuer Weise zur Kenntnis, wenn er auf jüngere Segler vom German Sailing Team trifft, die er daheim bei Kiel unterrichtet. Seine Frau und Vorschoterin Anastasiya arbeitet parallel zu Training und Regatten an ihrer Masterarbeit, die sich mit den Einflüssen des Corona-Virus auf die Olympischen Spiele in Japan befasst. Außerdem ist die gebürtige Ukrainerin, die am 18. März 2021 mit der Einbürgerungsurkunde die deutsche Staatsangehörigkeit erhielt, stark in der aktuellen Flüchtlingskrise engagiert.
Einige 470er-Mixed-Teams haben auch schon erste Eindrücke vom Olympia-Revier gesammelt. „Ich war schon da. Mit Philipp auch schon im letzten Jahr“, erzählt Luise Wanser. „Das German Sailing Team hat dort bereits zwei feste Container stehen. Für uns macht frühes Training dort viel Sinn. Ich finde Marseille supercool. Die Alpen laufen da aus, es ist ein bisschen gebirgig, richtig schön. Mit den Inseln ergibt sich ein spannendes Revier mit drehenden Winden. Oft herrscht Mistral-Richtung, die Inseln haben ihren Einfluss. Ich kann mir vorstellen, dass wir im 470er auch außerhalb der Bucht gefordert sein werden. Das ist dann offenes Mittelmeer mit schöner Welle…“ Ihren Jura-Bachelor hat Wanser inzwischen in der Tasche und sich fürs Staatsexamen an der Fern-Uni angemeldet. In ihrem neuen Segelteam punktet der erfahrene Vorschoter Philipp Autenrieth neben dem Segeleinsatz auch als Bootsbauer mit "super Knowhow", sagt Wanser
Bei der dreitägigen Warm-up-Regatta zur Trofeo Princesa Sofía konnten sich die beiden Olympia-Teilnehmerinnen Wanser und Winkel mit ihren jeweiligen neuen Segel-Partnern und den Plätzen sechs und sieben leicht von der nationalen Konkurrenz absetzen. Es folgten Dahnke/Cipra (13.) und Göttlich/Markfort (23.). Hier geht es zu den Ergebnissen (bitte anklicken!). Ob und wie oft sich diese Hackordnung angesichts der vielen deutschen Kandidaten noch ändert, muss die Saison zeigen. Einig sind sich alle, dass die Spanier Jordi Xammar und Nora Brugmann vorerst die Messlatte der Klasse sind. Dazu kommen mit den Österreichern Lara Vadlau und Lukas Maehr, dem dreimaligen Opti-Weltmeister Marco Gradoni und Alessandra Dubbini aus Italien oder auch den Schweizern Yves Mermod und Maja Siegenthaler weitere namhafte Teams, die in dieser neuen olympischen Disziplin erfolgreich sein wollen. Auch mit Top-Teams aus Übersee ist im Laufe der Saison wieder vermehrt zu rechnen. Die Neubelebung des 470er-Jollensports verspricht für die verbliebenen zweieinhalb Jahre des längst laufenden Olympia-Zyklus viel Spannung und voraussichtlich auch die eine oder andere Überraschung