Tatjana Pokorny
· 03.10.2021
Der Jüngste ist aktuell der Erste: Kann der erst 19 Jahre alte Jura-Student seine mit Entschlossenheit erworbene Spitzenposition ins Ziel bringen?
Eines ist jetzt schon sicher: Die Segelwelt wird den Namen Melwin Fink so schnell nicht vergessen. Mit seinem Sturmausbruch bei der laufenden ersten Etappe im 23. Mini-Transat sorgt der in Bielefeld geborene und in Kiel Jura studierende 19-Jährige international für Staunen, Hochachtung und auch jede Menge Diskussionen in den sozialen Netzwerken. Der Teenager führt das Klassement der Serienboote an. Am Sonntagabend hatte der junge „Signforcom“-Skipper bei seiner Mini-Transat-Premiere als Spitzenreiter auf dem Weg in den Etappenhafen von La Palma imposante 85 Seemeilen Vorsprung vor dem zweitplatzierten 44-jährigen Österreicher Christian Kargl, mit dem er gut bekannt ist und sich während der vergangenen fordernden Tage auch über UKW-Funkt ausgetauscht hat. 150 Seemeilen hinter Fink lag am Sonntagabend „Dynamips“-Skipperin Julie Simon als beste Französin bei den Serienbooten auf Platz drei im Heer der 65 Serienboot-Herausforderer, von denen mit Georges Kick einer aufgeben musste, weil er bei der Einfahrt in den Hafen Ribabeo auf die Steine gefahren ist, wo er sich Schutz erhofft hatte. Weiter dominant bleibt im Protofeld das enteilte Führungs-Quartett bei einem Wechsel an der Spitze: Tanguy Bouroullec hat auf "Tollec MP / Pogo" das Kommando vor Pierre Le Roy auf "Teamwork", Fabio Muzzolini auf "Tartine sans Beurre" und Irina Gracheva auf "Path" übernommen.
Im Rampenlicht aber steht ein anderer: Melwin Fink ist auf dem Weg zu einem „Jahrhundert-Raub“ – so formulieren es die Veranstalter. Als fast alle Starter bis auf das längst enteilte Führungs-Quartett der Proto-Wertung am Freitag der intensiven Empfehlung der Wettfahrtleitung folgten, angesichts des drohenden Kap-Finisterre-Sturms einen Schutzhafen aufzusuchen, zogen zwei durch: Melwin Fink und der 44-jährige Österreicher Christian Kargl. Der musste zwar später auch kurz einen Hafen anlaufen, weil seine Elektronik einen „Blackout“ erlitten hatte, konnte das Rennen aber bald darauf wieder aufnehmen. So hat sich die Führung zweier deutschsprachiger Segler bei diesem urfranzösischen Rennen ergeben, die jetzt in aller Munde ist.
Seit zwei Tagen diskutiert die Segelwelt darüber, ob die Entscheidung zum Weitermachen zu mutig oder in der südlichen Position, in der sich Fink und Kargl zum Zeitpunkt ihrer Entscheidung befanden, genau richtig war. Weil die Aktiven im Mini-Transat – anders als beispielsweise bei der Vendée Globe – nicht zu erreichen und selbst zu befragen sind, kommt bei der Beurteilung der Abläufe und Entscheidungen vor allem einem Kommentar von Christian Kargl große Bedeutung zu, den er während seines Hafenaufenthaltes veröffentlicht hat. Denn Kargl war mittendrin, hat die Bedingungen selbst erlebt – und, abgesehen von seinem technischen Malheur, wie Fink entschieden. Kargl erklärt den gewinnverheißenden Durchmarsch so:
„Statement zu den vorherrschenden Wetterkapriolen: Tag 6 (Red.: Samstag). Es war angesagt, dass viel Wind kommt und es gab die Warnung über die Begleitboote, dass die Minis Schutzhäfen anlaufen sollen. Jedoch war es "recommended" (Red., dt.: empfohlen). Also kein "Muss", sondern kann. Es ging dann ziemlich zu am Funk und es gab Überlagerungen und einiges ging im Äther oder durch Arbeiten am Schiff verloren. Wir sollten uns bei den Begleitbooten anmelden, welche Marina wir anlaufen wollen. Melwinfinkracing war in der Nähe und wir entschlossen uns, Baiona anzulaufen. Leider gab es keine Rückmeldung seitens des Begleitbootes. Da die Front erst später eintreffen sollte, wollten wir die Zeit nutzen, um weiter nach Süden zu kommen. Im Laufe des Abends haben wir uns dann für Viana do Castelo entschieden. Der spanische Wetterbericht hat dann bestätigt, dass die Konditionen sich geändert haben und es durchaus segelbar ist. Leider hatte ich dann einen Blackout und somit lief ich Viana do Castelo an. Melwin fühlte sich gut und wollte weiter segeln. Er versprach mir, nichts Unüberlegtes zu tun, sich gut zu sichern und das Sturmsegel zu setzen. In diesem Sinne wünsche ich Melwin ein gutes Race und liebe Grüße an Österreich, Deutschland und die Schweiz.“
Kargls Ausführungen erklären gut, wie Fink zu seiner Entscheidung kam, sie abgewogen und aktuelle Wetterinformationen einbezogen hat. Weitere prominente Segler haben Finks Sturm an die Spitze und den damit in vorstellbare Nähe gerückten Etappensieg inzwischen kommentiert. Unter ihnen Yvan Bourgnon, der selbst nicht gerade als zurückhaltender Sonntagssegler gilt. Bourgnon hat die Welt zwischen 2013 und 2015 über 30.000 Seemeilen auf einem offenen Sportkatamaran umsegelt. Er schrieb jetzt unter anderem: „Ich bin absolut überzeugt, dass weise Entscheidungen und Vorsicht bei allen jenen Skippern geboten sind, die am Mini-Transat teilnehmen, weil sie ein Abenteuer erleben wollen. Sie haben vielleicht einen Kredit für ihr Boot aufgenommen, keine Karriere im Sinn und wollen das Rennen einfach nur beenden. Aber ich räume absolutes Unverständnis darüber ein, die gesamte Spitzengruppe der Serienboote an der Haltestelle zu sehen. Sie haben echte Budgets, siegfähige Boote und auf denselben Booten mindestens zwei Jahre Vorbereitung mit 5000 oder mehr gesammelten Meilen hinter sich und sollen sich nicht ein paar Stunden 40-Knoten-Böen stellen können?“ Bourgnon fragt sich bei seiner Betrachtung, ob die Wetterwarnungen vielleicht „zu alarmierend“ gewesen seien. Und er verweist auf den jungen Deutschen: „Man muss sich Melwin Finks Position anschauen, der allein auf der Welt sein Glück versucht. Wenn er im Rennen bleibt, kann ihm der Coup auf dieser ersten Etappe gelingen! Es gibt keinen Grund zu sagen, dass seine Entscheidung mit Blick auf alles und alle nicht die richtige war. Ich bin sehr gespannt auf seine Version der Fakten, um die gemeinsame Entscheidung des gesamten führenden Feldes besser zu verstehen.“
In der Tageszusammenfassung der Mini-Transat-Veranstalter hieß es am späten Sonntagnachmittag, Fink habe es auf Kurs Kanaren mit „Wagemut und Kühnheit“ geschafft, dem schlechten Wetter und Bedingungen zwischen 35 und 40 Knoten zu trotzen. Er habe seinen Kurs Richtung Süden ohne größere Probleme fortsetzen können. "Auf dem Breitengrad von Lissabon hat er einen Vorsprung von 150 bis 200 Seemeilen vor dem Großteil des Pelotons, was es ihm – vorbehaltlich unvorhersehbarer Ereignisse oder Schäden – ermöglichen sollte, diese erste Etappe des Mini-Transat EuroChef mit einem Saldo von mindestens 24 Stunden Vorsprung gegenüber der Konkurrenz zu gewinnen.“ Nach jüngsten Routings wird Finks Ankunft in Santa Cruz de La Palma ab Donnerstag erwartet, während der Großteil der Flotte voraussichtlich ab Freitag fortlaufend eintreffen wird.
Kann Fink seinen Coup landen? Abgerechnet wird bei Regatten bekanntlich im Ziel. Finks Fans schauen daher gebannt auf das grüne Bootssymbol seiner „Signforcom“ im Tracking der Veranstalter und sehen die Distanz zur Linie vor Santa Cruz de La Palma gerne schnell schmelzen. In den Worten von Boris Herrmann: „Sieht super aus!“ Gewonnen hat das Mini-Transat seit der Premiere 1977 mit Wolfgang Quix und seiner nur 5,70 Meter langen "Waarwolf“ noch kein deutscher Segler. Bester war bislang Jörg Riechers, der 2017 Zweiter in der Proto-Wertung wurde. Morten Bogacki glänzte 2019 trotz technischer Rückschläge als Dritter. Vendée-Globe-Held Boris Herrmann segelte 2001 als damals jüngster Teilnehmer im Alter von 20 Jahren auf Platz elf. Was daraus wurde, hat Segeldeutschland um die Jahreswende erlebt und gefeiert. Selbst neugierig, wie es für Melwin Fink weitergeht? Der Tracker zeigt die Zwischenstände (bitte anklicken!).