Wann war das Wetter bei der Kieler Woche zuletzt so schön? Ein sattes Sommerhoch sorgte bei der weltgrößten Segelwoche neun Tage lang für Feststimmung und gute Laune. Trotz vieler Rennverschiebungen in die Abendstunden und einiger Wettfahrtausfälle genossen knapp 3.000 Seglerinnen und Segler und mehr als 100.000 Besucher im Olympiazentrum Kiel-Schilksee diese lange Wonnewoche.
Gleichzeitig war in der deutschen Herzkammer des Segelsports unübersehbar, dass die Kieler Woche 141 Jahre nach ihrer Premiere 1882 nicht an ihre Glanzzeiten mit mehr als 4.000 Seglern und Seglerinnen anknüpfen konnte. Auch qualitativ war der Aderlass vor allem in der olympischen Halbzeit offensichtlich. Der Kurs der internationalen Stars des Segelsports führte in diesem Jahr an der weltgrößten Segelwoche im deutschen Norden vorbei.
Es war vor allem der Segelnationalmannschaft, den Weltmeistern und olympischen Hoffnungsträgern des German Sailing Teams zu verdanken, dass in Halbzeit eins der Kieler Woche drei deutsche Siege in den olympischen Klassen gefeiert werden konnten. Vor allem die Weltklasse-Trainingsgruppe der 470er-Mixed-Teams hatte für viel Spannung gesorgt. Die jungen MSC-Seglerinnen Marla Bergmann und Hanna Wille waren am Finaltag zum Sieg im 49er FX gerauscht.
Auch iQFoil-Weltmeister Sebastian Kördel hatte mit seinem Sieg und krasser Serie von 1, 1, 1, DNC, DNC, 1, 1, 1 für Furore gesorgt. In flauen Winden war der Windsurf-Dominator zwar einen Tag in Seegras und Flaute hängen geblieben. Zum Auftakt und am Finaltag jedoch hatte der für den Norddeutschen Regatta-Verein startende Radolfzeller sein international eher schwach besetztes Feld dominiert.
Wie im iQFoil, so mangelte es auch in anderen Olympiaklassen an veritabler internationaler Konkurrenz. Die Gründe dafür, dass europäische Klassiker wie die Trofeo Princesa Sofía im Frühjahr vor Mallorca der Kieler Woche mit fast 1.000 Aktiven im olympischen Bereich den Rang ablaufen, sind vielfältig. Überschneidungen mit Trainingsfenstern in den Revieren für die olympische Testregatta im Juli vor Marseille und für die WM aller olympischen Segeldisziplinen im August in Den Haag hielten viele Top-Akteure von Kiel fern.
Der Grund liegt im unglücklichen Saison-Timing: Die Kieler Woche liegt den Höhepunkten im vorolympischen Jahr mit ihrem Juni-Termin zu nah. Die durch viel Personalwechsel und schwache Präsenz des Weltseglerverbandes World Sailing verursachte Implosion des Weltcups, dessen Finale ursprünglich für Kiel geplant war, aber entfiel, machte den Organisatoren die Arbeit schwer.
Ihrer Linie, keine russischen und belarussischen Sportler zuzulassen, blieben die Kieler-Woche-Veranstalter treu. Sportchef Dirk Ramhorst sagte: “Wir haben das in Verbindung mit dem DOSB und dem DSV entschieden. World Sailing hat das unter chinesischer Führung nicht getan.” Eine Wiederaufnahme des Dialogs mit World Sailing zum Weltcup und damit verbundenen Themen sei, so Ramhorst, für die Zeit nach der WM in Den Haag vereinbart.
Dass finanzielle Anreize für die selten aus dem Vollen schöpfenden Olympiasegler geschaffen werden müssen, damit sie wieder Kurs auf die Kieler Woche nehmen, glaubt Dirk Ramhorst nicht: „Mit Preisgeld lässt sich nicht alles lösen. Im Ocean Race gibt es auch keins. Klar ist, dass die diesjährigen Zahlen nicht unserem Anspruch entsprechen. Wir müssen noch intensiver mit den Klassenvereinigungen und Sportlern und Sportlerinnen reden.”
Die letzten internationalen Siege holten am Sonntag Contender-Weltmeister Max Billerbeck aus Bokholt-Hanredder, die FD-Weltmeister Kay-Uwe Lüdtke/Kai Schäfers aus Berlin, die J/24-Crew um Fritz Meyer aus Hamburg, Levian Büscher aus Düsseldorf im Ilca 4 und Paul Ulrich vom Zwischenahner Segelclub im Ilca 6.
Damit hätte die 129. Kieler Woche sonnig und wonnig Ende gehen können. Doch eine “Anzeige” in der J/70-Klasse und ihre Folgen sorgten für eine unerfreuliche Schlussnote. Eine Mail von einem Teilnehmer aus den Top Ten an die Internationale Klassenvereinigung löste eine Kette von Reaktionen aus. Im Kern ging es in der Mail um die Forderung, den Status eines “Profi”-Steuermanns zu überprüfen. Dass das nicht schon bei Meldung der Teilnehmer und vor Start der Internationalen Deutschen Meisterschaft im Rahmen der Kieler Woche seitens der Klassenvereinigung als Veranstalter geschehen war, war ein Teil des Problems, das nun sehr schnell sehr groß wurde.
Viele J/70-Segler hatten aus Unwissenheit oder Vergesslichkeit entweder keine oder nur eine abgelaufene Bescheinigung über ihren Status, zumeist 1 (”Amateur”) oder eben 3. In der J/70 gilt unter anderem diese Regel, wenn sie nicht – wie beispielsweise in der Bundesliga üblich – außer Kraft gesetzt wird: Hat der Steuermann Kategorie-3-Status (”Profi”), muss ihm mindestens 50 Prozent einer J/70 gehören.
Von der Mail-Aufforderung an die Internationale Klassenvereinigung erhielt das Technische Komitee Kenntnis, das sich im Rahmen seiner Aufgaben entsprechend zum Handeln gezwungen sah und in der Folge bei der weiten Mehrheit des Feldes fehlende oder nicht mehr gültige Kategorie-Nachweise feststellte und eine Anhörung anberaumte.
Offiziell hieß es später – nachlesbar in den Ergebnislisten der IDM bei allen mit “DPI” ergänzten Ergebnissen: “Das Technische Komitee hat Informationen bezüglich der Gültigkeit einer Segler-Kategorisierung eines J/70-Skippers erhalten. Bei einer weiteren Untersuchung wird bei den folgenden Booten angenommen, dass sie die Klassenregel C.3.2(a) brechen, indem sie über keine gültige Kategorisierung der Gruppe 1 verfügen.” Es folgt die Auflistung von 40 der insgesamt 53 Segelnummern!
Eine Anhörung der Betroffenen fand am Samstagabend statt. Mit dabei war auch der Stein beziehungsweise Skipper des Anstoßes: Olympiasegler Malte Winkel hatte die J/70-Klasse mit seiner Crew auf “Halbtrocken light” und auffallend guten Leistungen bis dahin drei Tage lang sehenswert ins Rampenlicht gerückt. Es gab viel öffentliches Interesse an der Klasse. “Und dabei wussten alle die ganze Zeit, dass ich Kategorie-3-Segler bin und mir keine J/70 gehört”, sagte Winkel am Ende des Regelgewitters. Weder der mit seiner Frau Anastasiya Winkel für die olympische Testregatta im Juli qualifizierte 470er-Mixed-Steuermann noch seine Crew noch viele, viele weitere Segler im J/70-Feld hatten Regel C 3.2(a) als bindend für die IDM im Kopf.
Zum Hintergrund und Verständnis dieser unglücklichen Geschichte muss man wissen, dass Seesegler Michael Berghorn und seine Frau Mareike Berghorn 2022 den Verein Halbtrocken e. V. zur Förderung von talentierten Seglern und auch Olympioniken gegründet hatten. Zur Kieler Woche kreuzten sie nun erstmals mit zwei J/70-Booten namens “Halbtrocken light” mit Steuermann Malte Winkel und “Halbtrocken twi-light” mit Steuermann Michael Berghorn auf. Dass 470er-Ass Malte Winkel mit Theres Dahnke, Moritz Klingenberg und Mika Trosien das Feld auf Anhieb dominierte und sie ihre Freude am J/70-Segeln ansteckend teilten, hat offenbar einem Akteur im Feld nicht gefallen.
Was uns bleibt, sind die tollen Tage, die wir als Team auf dem Wasser hatten” (Malte Winkel)
Infolge der Anhörung wurden Malte Winkel und seine Crew für die ersten sechs Rennen disqualifiziert und fielen dadurch auf den 53. und letzten Platz zurück. An den letzten vier Rennen nahmen sie nicht mehr teil. Die Liste der Verlierer in diesem wenig schönen Fall ist lang: Die Klassenvereinigung hat versäumt, die Meldungen – wie üblich – vor Regattastart bezüglich der Kategorie-Nachweise zu prüfen.
Die Auswirkungen trafen Malte Winkel und seine Crew hart: „Nach so viel Spaß, den wir als Team zusammen hatten, und nach dieser starken Leistung, mit der wir uns in der J/70-Klasse gezeigt haben, ist es so ziemlich das Schlimmste, was uns passieren konnte. Dass wir nach drei Segeltagen kurz vor Schluss aufgrund einer Klassenregel disqualifiziert werden, ist brutal. Wir waren uns wie all die anderen Teilnehmer dieser Klassenregel nicht bewusst. Was uns bleibt, sind die tollen Tage, die wir als Team auf dem Wasser hatten, und unsere herausragende Segelleistung, die ehrlich und hart erarbeitet wurde“
Wir sind doch einfach nur Speedjunkies, die ihr Boot gerne schnell segeln” (Malte Winkel)
Weiter erzählte Malte Winkel, der als Profi gilt, weil er olympisch segelt, aber weder für den J/70-Einsatz bezahlt wird noch jemals zuvor eine große Regatta mit einer J/70 gesegelt hatte: “Ich hatte nach der Anhörung noch ein sehr nettes Gespräch mit dem Klassenpräsidenten, dem es leid tat. Wir sind im Guten auseinandergegangen. Sie haben mich gefragt, was ich nach Olympia mache, und gesagt, dass ich zur IDM 2024 sehr willkommen wäre, damit sie es wieder geraderücken können.” Winkel erzählte aber auch, wie traurig seine Crew-Kameraden über das Schock-Aus gewesen seien: “Die Meisterschaft war ein tolles Ziel. Wir sind doch einfach nur Speedjunkies, die Boote gerne schnell segeln.”
Das Technische Komitee brachte sein Bedauern ebenso zum Ausdruck. Dass es nach Kenntnis der Informationen hat handeln müssen, steht außer Frage. Auch Michael Berghorn sagte: “Regeln sind Regeln. Wir kannten sie nicht.” Was Berghorn nicht gefällt, ist die Botschaft, die von der “Anzeige” ausgeht: “Warum geschieht das nach drei Tagen? Und welche Botschaft verbirgt sich dahinter? Dass Olympioniken, die nun ohnehin nicht aus dem Vollen schöpfen können, Knüppel zwischen die Beine geworfen werden, weil sie sich kein eigenes Boot leisten können?”
Dass am Ende ein Schweizer Team die Internationale Deutsche Meisterschaft im Rahmen der Kieler Woche gewann, wirkte fast wie ein salomonisches Urteil. Im Gespräch mit den “Kieler Nachrichten” ließen die Eidgenossen aber wissen, sie hätten “Silber ersegelt und Gold gewonnen”. Und dazu noch dies: Es werfe kein gutes Licht auf die Klasse, dass man junge ambitionierte Segler so verprelle. Das Gros der Klasse konnte seinen Status im Nachgang übrigens noch klären und kassierte für das vorherige Versäumnis im Bereich Kategorie-Nachweis lediglich eine Ein-Punkt-Strafe.
Ungut an dem Fall oder auch “unfair”, wie es Kieler-Woche-Sportchef Dirk Ramhorst formulierte, ist das Timing der “Anzeige” in Richtung Internationaler Klassenvereinigung. Die KV wurde auf den Fall Winkel nicht von Beginn an hingewiesen, sondern erst, als das Team schon zwingend starke Leistungen gezeigt und sich deutliche Siegchancen erarbeitet hatte. Der Verfasser oder die Verfasserin der Mail war am Finalabend der Kieler Woche weiter unbekannt.