Tatjana Pokorny
· 30.05.2024
Noch nie hat die leidenschaftliche Segelnation Frankreich den America’s Cup gewinnen können. Obwohl 1970 erstmals durchgestartet und bis 2007 neben den USA als einzige Nation bei jeder Edition am Start, konnten weder Marcel Bichs erste “France” mit Louis Noverraz, Popie Delfour und Eric Tabarly noch eine der folgenden Kampagnen die älteste internationale Trophäe der Sportwelt nach Frankreich holen. Das soll sich ändern.
Dabei ziehen die Franzosen als spät, erst im Frühjahr 2022 gestartete Kampagne und Außenseiter mit dem kleinsten Budget in die Cup-Schlacht. Man habe vielleicht die Hälfte des Budgets der Kiwis, mehr oder weniger ein Drittel des Budgets der anderen, tippt der Teamchef. Dennoch gibt es Faktoren, die sie auf ihrer Haben-Seite wissen. Einer ist das neue Boot. Anders als die anderen vier Herausforderer, haben die Franzosen ihr Boot für den America’s Cup nicht selbst entwickelt, sondern von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, ein Design-Paket von den neuseeländischen Cup-Verteidigern zu kaufen. Das jedoch haben sie selbst mit den relevanten Systemen ausgestattet und weiterentwickelt. Da, wo man es nicht sehen kann, werden sich auch das neuseeländische und das französische Boot voneinander unterscheiden.
Mit Team New Zealands Basis-Arbeit haben wir die Möglichkeit ein Boot zu entwickeln, das wirklich eine Chance hat.” Stephan Kandler
Der Austausch zwischen den Kiwi-Entwicklern und dem französischen Team war mit Baubeginn des Bootes abgeschlossen. Danach durften keine Daten mehr das Team wechseln. Für die französischen America’s-Cup-Spätstarter war und ist es eine ideale Situation, wie Teamchef Stephan Kandler erklärt, der seine zweite Cup-Kampagne an der Seite von Bruno Dubois bewusst mit Doppelspitze antreibt. Seine Überzeugung: “Mit Team New Zealands Basis-Arbeit haben wir die Möglichkeit ein Boot zu entwickeln, das wirklich eine Chance hat.”
Die Hoffnungsträgerin “Orient Express” wurde am 29. Mai in Barcelona getauft und soll in der Herausfordererrunde zum 37. America’s Cup für Überraschungen sorgen. “Wir sind als Marke Träumer, wir sind Macher” – mit diesen Worten gab Gilda Perez Alvarado das Teammotto vor. Die CEO von Orient Express und Chefstrategin der Accor Group taufte das Boot, ließ gemeinsam mit Skipper Quentin Delapierre die Magnum-Champagnerflasche bersten. Delapierre hatte zuvor die Taufzeremonie gemeinsam mit den beiden Skippern für den Youth America’s Cup und den Puig Women’s Americas Cup abgehalten: Enzo Belanger und Manon Audinet.
Edel sieht das Geschoss der Franzosen aus, stylish und sehr französisch. Doch was wird es im America’s Cup erreichen können? Sein Team habe ein eher kleines Budget, sagt Stephan Kandler, dafür aber andere Vorzüge und Qualitäten. Franck Cammas beispielsweise bezeichnet Kandler als “Geheimwaffe”. Der Performance-Chef im Team Orient Express Racing ist ein Tausendsassa, selbst ein herausragender Segler, der schon unzählige Rekorde gebrochen, das fordernde Le Figaro bereits als 24-Jähriger im ersten Anlauf und das Transat Jacques Vabre zweimal gewann. 2010 siegte er solo bei der Route du Rhum und danach im Ocean Race.
Die beste Crew ist die, die am besten den Trimm des Bootes und seine Weiterentwicklung miteinander verknüpfen kann.” Franck Cammas
Team Gitanas Ultim “Maxi Edmond de Rothschild” hat Franck Cammas an der Seite von Charles Caudrelier mitentwickelt. 2017 war Franck Cammas im America’s Cup der Skipper des chronisch von Geldsorgen geplagten Groupama Team France, das trotzdem Glanzpunkte setzen und als David gegen die Goliaths beeindrucken konnte. Damals arbeitete Franck Cammas eng mit Design-Chef Martin Fischer zusammen, der später zum italienischen Team Luna Rossa Prada Pirelli wechselte und aktuell im 37. America’s Cup für Sir Ben Ainslies Team Ineos Britannia Design vordenkt.
Im Orient Express Racing Team laufen bei Franck Cammas fast alle Fäden zusammen. Der Mann, der in seiner Jugend viel Klavier und auch Geige spielte, ist das Bindeglied zwischen dem Design-Team um Benjamin Muyl und den Seglern um Skipper Quentin Delapierre. Cammas selbst sagt auf die Frage, was er fürs franzoische Team tut, lächelnd: “Das ist schwierig zu erklären. Ich habe mich das anfangs auch gefragt: Was kann ich tun, wenn ich nicht auf dem Boot bin. Am Ende ist es das Ziel, bei den Seglern zu sein und ihnen zu helfen zu verstehen, wie dieses Boot arbeitet. Und wie wir das Bootshandling, das Tuning und die Dynamik des Tunings konstant verbessern können. Die beste Crew ist die, die am besten den Trimm des Bootes und seine Weiterentwicklung miteinander verknüpfen kann.”
Wie gut das den Franzosen mit ihrem Schwesterschiff der neuseeländischen “Taihoro” gelingen wird, muss sich auf dem Wasser zeigen. Noch gibt es zwar viele Interpretationen der unterschiedlichen Entwürfe der insgesamt sechs Cup-Teams, aber nur wenige Erkenntnisse zum wahren Leistungsvermögen der Boote in den Händen ihrer Crews, die sie bis zu den Cup-Rennen und auch während der Regatta ständig weiterentwickeln werden.
Im “Orient Express” stecken 46.000 Bootsbaustunden über neun Monate, die bei Multiplast in Vannes geleistet wurden. Der renommierte Bootsbaubetrieb ist ein weiteres Ass im Ärmel der Franzosen: Auf keiner Werft weltweit sind in der Vergangenheit mehr Siegerboote entstanden als hier. Ein selbst weiterentwickelter, von VPP gebauter Simulator half und hilft den Franzosen beim Training für den Kampf um den America’s Cup. Ebenso das Segeln mit den kleineren Einrumpffoilern, der AC40 und der Leq 12. Dazu kommen die Einsätze im SailGP.
Wir haben diese Art der risikoreichen Designs so nicht unbedingt erwartet, aber es gibt sie.” Franck Cammas
Franck Cammas sagt, er hält die Boote im 37. America’s Cup für recht unterschiedlich. “Wir haben diese Art der risikoreichen Designs so nicht unbedingt erwartet, aber es gibt sie”, sagte er im Interview mit der YACHT am Tauftag in Barcelona. Cammas hält den Entwurf der Briten “für aggressiv auf der einen Seite”, das US-Design vom Team American Magic für “aggressiv auf der anderen Seite”. Sie seien “fast gegensätzlich”.
Wenn man sich Ineos ansehe, so Cammas, sind sie “sehr schmal und sehr hoch”, die Amerikaner dagegen seien “niedrig und breit”. Die Amerikaner hätten außerdem versucht, das Crew-Gewicht nach vorne zu bringen. “Das ist sicher gut”, so Cammas. Doch der Nachteil läge hier klar im Luftwiderstand, weil das US-Team seine Crew gleichzeitig dem Großsegel nähergebracht habe und dadurch für zusätzliche Verwirbelung in diesem Bereich sorgt. All das resultiert aus dem niedrigen Freibord der US-Yacht. Der “Orient Express” dagegen präsentierte sich bei der Taufe wie schon die Kiwi-Schwester mit einem durchgehenden Bustle und ohne dramatische Auffälligkeiten.
Der Tauftag in Barcelona markierte einen stolzen Meilenstein in der Geschichte des Teams um Bruno Dubois und den K-Challenge-Gründer und Winzer Stephan Kandler, dessen Vater und früherer Airbus-Manager einst zu den Mitgründern und Machern des deutschen Daimler-Benz-Segelförderprojekts AeroSail zählte. Stephan Kandler sagte in Barcelona: “Dies ist ein bemerkenswerter Moment auf unserer Reise. Es ist der Moment, in dem der gemeinsame Traum von mir, Bruno Dubois und dem gesamten Orient Express Racing Team Wirklichkeit geworden ist. Wir danken allen Beteiligten und freuen uns auf den Start des America's Cup und die Rolle, die wir bei den Rennen für Frankreich spielen werden.“
Zum Genießen! Bootsbauimpressionen der Franzosen zu klassischer Musik, den von Kimiko Ishizaka interpretierten Goldberg Variations: