Tatjana Pokorny
· 25.09.2024
Vor jedem Rennen im Louis Vuitton Cup und auch ab 12. Oktober im America’s Cup werden die Bedingungen kontrolliert. Die Winde müssen an mehreren Stellen auf dem Cup-Kurs zwischen neun und vier Minuten vor dem Start konstant über 6,5 und unter 21 Knoten liegen, damit ein Rennen starten kann. Werden die Grenzwerte auch nur an einer Messstelle unter- oder überboten, dann wird die Uhr wieder auf die anfänglichen neun Minuten zurückgestellt und die Prozedur beginnt von vorne.
Nur bei klar und anhaltend widrigen Bedingungen können Wettfahrtleiter Iain Murray und sein Team auch eine längere Startverschiebung ansetzen oder die Rennen auf den nächsten Tag verschieben. Sind die Bedingungen aber zulässig, liegen also innerhalb der festgelegten Grenzwerte, dann kommt Race-Committee-Mitglied Melanie Roberts neben ihren anderen Regatta-Management-Aufgaben am Mikrofon zum Zug. Typischerweise sagt sie: “This is the race committee. We have passed the wind test.” Und dann diesen Satz: “This race is live!”
Mel Roberts spricht diesen einfachen Satz so souverän und verheißungsvoll aus, dass er zum Inbegriff für den America’s Cup geworden ist. “This race is live” eröffnet Vorstartspannung, Positionskämpfe, Speedrausch oder Flautenfallen und Boote, die von ihren Foils fallen oder wieder hochkommen und über den America’s-Cup-Kurs vor Barcelina jagen. “This race is live!” ist das Cup-Synonym für “Action!” beim Film oder “Go” in anderen Sportarten. “This race is live!” kündigt einen Duell unter Segeln an, das es so aktuell nur im America’s Cup gibt.
Melanie Roberts gibt das verbale Vorab-Startsignal für die Rennen im Louis Vuitton Cup und im America’s Cup wie niemand sonst. Es ist 29 Jahre her, dass die in San Diego großgewordene Amerikanerin als enthusiastische und mitfühlende Neunjährige einen Brief und einen Fünf-Dollar-Schein an das America’s-Cup-Team OneAustralia schickte. Mit ihrem Taschengeld für eine Woche wollte sie der Mannschaft nach dem Sinken von “OneAustralia” 1995 helfen, wieder auf den Cup-Kurs zurückzukehren.
Die fünf Dollar bekam sie mit einem Brief vom 24. April 1995 zurück. Absender war “OneAustralia”-Skipper John Bertrand, der sich persönlich und herzlich für die “großartige Unterstützung” bedankte. Gleichzeitig versicherte er dem Mädchen aus San Diego, dass ”ich mich glücklich schätze dir sagen zu können, dass wir dein Geld nicht haben einsetzen müssen und ich es dir deshalb zurückschicke”.
Taktiker an Bord von “OneAustralia” war damals, als die America’s-Cup-Yacht aus Down Under in starken Winden dramatisch in zwei Teile zerbrochen war und sank, mit Iain Murray kein anderer als der aktuelle Regattadirektor für den Louis Vuitton Cup und das 37. Match um den America’s Cup. Mel Roberts – die Frau mit der ruhigen und vollen Stimme – ist seine Assistentin. Sie haben schon im 36. America’s Cup in Auckland zusammen gearbeitet. Und tun es weiterhin gut und erfolgreich.
“Als ich klein war, stand der America’s Cup bei uns im Club.” Mel Roberts
Beflügelt hat die “Auld Mug” Mel Roberts auf ihrem Kurs schon im Grundschulalter ganz direkt. Als kleine Sabot-Seglerin wuchs sie mit alltäglichem Blick auf die verschnörkelte Silberkanne auf. Der America’s Cup stand zwischen 1987 und 1995 in einer Glasvitirne im heimischen San Diego Yacht Club, für den Dennis Conner die “Auld Mug” mit “Stars & Stripes” als Erster gewann. “Als Kind dachte ich, der America’s Cup gehört einfach als Bestandteil fest zum Club”, sagt sie heute in Barcelona lächelnd.
In Barcelona ist Mel Roberts Teil des Race-Committee-Quartetts auf dem Startschiff, wo über die Rennaktivitäten gewacht und entschieden wird. Dazu kommen die mobilen Teams auf dem Wasser. Iain Murray fällt die Entscheidungen auf Basis der Informationen seiner Crew. Crew-Mitglied Mel Roberts steht jeden Tag um 5 Uhr auf, geht eine Runde joggen und dann zu ihrer Arbeit im Herzen des America’s Cup in Barcelona.
Normalerweise ist sie in einer vergleichbaren Rolle in Vollzeit für die Segelliga SailGP im Einsatz. Doch die pausiert mit Blick auf den laufenden America’s Cup noch bis November. Das passt gut. Im SailGP operiert Melanie Roberts, die nach ihrem College-Abschluss zunächst als Regatta-Koordinatorin für den St. Francis Yacht Club in San Francisco tätig war, mit der Liga-Software, entwirft die Kurse, managt Rennen, dirigiert die Kommunikation und hilft auch mit der Dokumentation.
Als Globetrotterin genießt Mel Roberts über die Arbeit mit den Kollegen hinaus die vielen Reisen um die Welt, die ihr Job bei den führenden Events des internationalen Segelsports mit sich bringt: “Ich liebe das Reisen”, sagt die sympathisch-ruhige Frau genauso schlicht und überzeugend wie “This race is live!”. Seit 13 Jahren schon befasst sie sich zunehmend intensiv auch mit den spezifischen Rennmanagement-Technologien bei Top-Regatten. Ob und wie sich die von America’s Cup und SailGP ähneln, sagt sie – natürlich nicht.
Über ihren letzten America’s-Cup-Einsatz ist sie Neuseeland-Fan geworden. In Corona-Zeiten sind jene, die 2021 in Auckland für den America’s Cup gearbeitet haben, zu einer eingeschworenen “Cup-Familie” zusammengewachsen. Dass der SailGP zweimal in Folge Neuseelands Südinsel besuchte, hat Mel Roberts glücklich gemacht. Genauso freut sie sich auf die Rückkehr nach Auckland, wo der Neuseeland-Gipfel der Ende November durchstartenden fünften SailGP-Saison Mitte Januar 2025 steigt.
In den kommenden vier Wochen aber beleibt vorerst Barcelona das Zentrum von Mel Roberts Aktivitäten bei ihrem insgesamt vierten America’s-Cup-Engagement nach ihrer Premiere als Regattamanagement-Assistentin 2013, an der Seite von Iain Murray im Bereich Software-Operations 2017. Sie ist im Kollegenkreis beliebt, gilt als klug und zuverlässig. Dass sie einmal für und mit einem ihrer Kindheitshelden arbeiten würde, hätte sie als Mädchen nie gedacht: “Iain Murray hat so viel Erfahrung, und er ist ruhig und gelassen. Wir arbeiten gut zusammen. Er ist sehr respektiert.”
Die Frau mit der Stimme des America’s Cup zählt zu den Säulen, auf denen der Sport verlässlich ausgetragen werden kann. Dass in diesem Job Überstunden normal sind und Extratage an der Tagesordnung stehen, stört Mel Roberts nicht: “Das ist normal bei uns. Man muss in diesem Job sehr flexibel sein.” Sind die Kollegen oder sie selbst einmal hungrig, weil doch wieder die Zeit zum Essen fehlte, ist das in Mels Umgebung auch kein Problem. Die Frau ist leidenschaftliche Bäckerin.
Kurz vor dem Finalstart im Louis Vuitton Cup hatte sie schon vorgesorgt. Auf einem der Bürotische der Rennleitung in Barcelonas World Trade Center am America’s-Cup-Hafen Port Vell stehen reihenweise Boxen, deren Inhalte so verheißungsvoll sind wie Mel Roberts Stimme. Sie sind gefüll mit köstlichsten Brownies, Ahornsirup-Walnuss-Cookies und Kokoskeksen. Wäre es nicht für den Top-Job, den sie macht, könnte man sie auch für dieses Talent einstellen.