„Marabu“100-Quadratmeter-Seefahrtkreuzer kehrt nach Deutschland zurück

Der 100-Quadratmeter- Seefahrtkreuzer wurde 1935 bei Abeking & Rasmussen gebaut.
Foto: Anette Bengelsdorf
Vom Nationalsozialismus missbraucht, nach England entführt und vor dem Verfall gerettet: Ein maritimes Kulturgut ist zu seinen Wurzeln zurückgekehrt und beeindruckt durch Eleganz und Klasse.

Text von Anette Bengelsdorf

Heute ist nicht der Tag, der einen „Marabu“ zum Fliegen bringt. Die Herbstsonne hat die Nebelschwaden bereits aus dem üppigen Schilf gejagt, doch die Insel Reichenau und die Wälder am Ufer bleiben in Dunst gehüllt. Der Untersee zeigt sich von seiner flauen Seite und an Rauschefahrt mit Krängung ist nicht zu denken. Leise plätschernd gleitet der große, schwere Vogel einsam durchs Wasser. Eine Brise kräuselt die Oberfläche. Sie spiegelt sich im Rumpf und lässt das flammenrote Mahagoni lodern. Stolz führt die Yacht ihr altes Segelzeichen, die römische Zehn, im Hightech-Tuch. Klassik und Moderne sind auf „Marabu“ eine pragmatische Verbindung eingegangen, die ihm zu neuem Leben verhilft.


Weitere besondere Klassiker:


Als „Marabu“ 1935 in Lemwerder bei Abeking & Rasmussen gebaut wurde, hatte der Auftraggeber alles andere im Sinn als gemütliches Kaffee-Segeln auf einem Binnensee. Sowohl die Marine als auch die Luftwaffe wurden nach dem Ersten Weltkrieg wieder hochgerüstet. Der Oberbefehlshaber der Reichsmarine hielt es für unerlässlich, den Kadetten die Grundlagen der Seemannschaft zu vermitteln. Unter dem Motto „Der Seefahrtkreuzer hält länger durch als die Mannschaft“ vereinnahmte die Nazi-Ideologie die 1928 aus der Taufe gehobene Seefahrtkreuzer-Klasse. In verschiedenen Größen von 30 bis 150 Quadratmetern vermessener Segelfläche gebaut, sollten sie die nach damaliger Auffassung widersprüchlichen Eigenschaften wie Sicherheit, Schnelligkeit und Seetüchtigkeit mit Wohnkomfort in Einklang bringen.

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„Marabu“ war in den Dreißigern für die Luftwaffe bestimmt

Hielt sich die Begeisterung für die schnellen Tourenyachten anfänglich in Grenzen, wurden jetzt zunehmend große Werften wie Abeking & Rasmussen mit dem Bau dieser Klasse beauftragt. „Marabu“, einer der ganz großen Vögel neben „Storch“, „Reiher“, „Pelikan“ und „Kranich“, war für die Luftwaffe bestimmt. Während die Marine eher die kleinere 50-Quadratmeter-Klasse bevorzugte, setzte die Luftwaffe verstärkt auf die 100er-Version.

Angeblich, so ist in verschiedenen Quellen zu lesen, seien viele dieser repräsentativen Yachten auch für die Freizeitgestaltung hoher Offiziere zum Einsatz gekommen. Auch für Hermann Göring, der alles, nur kein Segler war. Von „Marabu“ wird erzählt, man habe ihn mit einer besonders großen Vorschiffskoje ausgestattet. Denn, so wurde kolportiert, der übergewichtige Göring sei zur heimlichen Belustigung der Mannschaft beinahe im Niedergang eines 50er-Kreuzers stecken geblieben. Einen Beleg für diese Geschichten gibt es freilich nicht.

Viele dieser Yachten wurden während des Zweiten Weltkriegs bei Bombenangriffen beschädigt oder zerstört, andere wiederum überstanden den Blut-und-Boden-Wahnsinn in gutem Zustand. Sie wurden 1945 beschlagnahmt und gingen als Reparationszahlungen zu einem Drittel an Russland, manche an die USA, die meisten aber, so wie „Marabu“, an die britische Armee. Wie reife Früchte fielen diese sogenannten Windfall-Yachten den Besatzern in den Schoß.

Leben als Regattayacht in der Royal Navy

Zwei der 100-Quadratmeter-Kreuzer blieben im Besitz des 1945 aus dem Kieler Yacht-Club hervorgegangenen British Kiel Yacht Clubs für die Besatzungskräfte zurück, weitere zehn 100er traten die Reise nach England an. „Marabu“ wurde 1946 als einer der letzten über den Kanal gesegelt und blieb im Besitz der Royal Navy. Mit Mahagoniplanken auf Eichen-und Stahlspanten und einem Kieferndeck gebaut, waren die Yachten von erstklassiger Qualität und bildeten in der Nachkriegszeit das Fundament für die Segelausbildung der britischen Streitkräfte.

Seefahrtkreuzer waren strenge Lehrmeister und auch „Marabu“ fühlte sich zu keiner Rücksicht auf einen Dienstgrad verpflichtet. Lieutenant Fairbank, ein erfahrener Segler und Sailing Master der Königin, erinnert sich: „Der Admiral, der nicht zu der Sorte gehörte, der man ungefragt einen Rat geben durfte, sprang an Bord, riss mir die Pinne aus der Hand und befahl, den Anker zu lichten. Dann, als er realisierte, dass zwar kein Wind, dafür umso stärkere Strömung herrschte, gab er das Kommando, die Maschine zu starten. ‚Marabu‘, wie eigentlich alle Windfall-Yachten, hatte aber keinen Motor.“ Zumindest mit fähigen Steuerleuten am Ruder war „Marabu“ eine äußerst erfolgreiche Regattayacht und nahm von 1951 bis 1965 an acht aufeinanderfolgenden Fastnet-Rennen teil.

Um das Vorsegeldreieck zu vergrößern und damit größere Genuas und Spinnaker fahren zu können, wurde Anfang der 50er-Jahre „Marabus“ Vorstag um drei Fuß nach vorne verlegt. Vor seiner Atlantiküberquerung 1952 kam ein heftig umstrittener Kajütaufbau dazu, der unter ästhetischen Gesichtspunkten eine Zumutung war, der Crew aber mehr Platz bot und die Yacht trockener hielt. Die Werft von Camper & Nicholsons machte den Seefahrtkreuzer mit einem zusätzlichen Besanmast schließlich zur Ketsch, baute einen kleinen Motor ein und tauschte die Pinne gegen eine Radsteuerung aus.

”Marabu” geht zivil und wird Schulungsyacht

Anfang der 70er-Jahre waren die Tage der einst wertgeschätzten Windfall-Yachten gezählt. Als ein „Joint Service Sailing Center“ mit modernen und schnelleren 55-Fuß-Yachten von Nicholsons – eine solche hatte 1970 das Sydney-Hobart-Race gewonnen – gegründet wurde, wurden sie meistbietend, mehr oder weniger für ein Taschengeld, an Zivilisten verkauft. So mancher stolze Besitzer unterschätzte aber, was es bedeutete, ein solches Schnäppchen instand halten zu müssen. Infolgedessen verschwanden viele von ihnen in der Versenkung. Manche gammeln noch heute unter Abdeckplanen vor sich hin, von anderen sind nur die Gräber bekannt und viele sind schlichtweg verschwunden.

1977 verkaufte auch die Navy ihre beiden altmodischen und unwirtschaftlichen 100er-Seefahrtkreuzer. „Marabu“ bekam einen Liegeplatz in Brighton und wurde von einem Zusammenschluss mehrerer Segler weiterhin als Schulungsyacht und in Tall Ship Races Tausende von Meilen gesegelt. Dieses „Marabu-Syndikat“, das später in „The Marabu Sailing Club“ umbenannt wurde, kümmerte sich viele Jahre lang hingebungsvoll um den Erhalt der tapferen Yacht. Planken wurden ausgetauscht, sogar der Kiel musste 1987 entfernt werden. Der große Vogel sorgte dafür, dass es seinen Eignern im Winter nicht langweilig wurde, aber auch, dass ihnen irgendwann das Geld ausging.

Als sich die Tatsache nicht länger leugnen ließ, dass seine rostigen Stahlspanten ersetzt werden mussten, wurde der zahlungsunfähige Club aufgelöst und „Marabu“ 2004 nach Ipswich verkauft. Versuche des neuen Eigners, ihn grundlegend zu sanieren, blieben im Ansatz stecken, und so vegetierte der flügellahme Vogel unabgedeckt fünf Jahre vor sich hin. Ein Hilfeschrei machte den Radolfzeller Bootsbauer Josef Martin 2009 auf den Windfall aufmerksam. Als er das Foto im Magazin des Freundeskreises Klassische Yachten unter der Überschrift „Rettet die Klassiker!“ sah, stand für ihn sofort fest : „So etwas darf man nicht kaputtgehen lassen.“ Ohne sie gesehen zu haben, kaufte er noch im selben Jahr die Yacht in ihrem erbärmlichen Zustand. Ein Tieflader lieferte sie auf den Hof seiner Werft, wo sie jahrelang vergeblich auf einen Käufer wartete.

Restaurierung, dass die nächsten 50 Jahre Ruhe ist

Martin begann 2017 auf eigene Rechnung mit der Restauration. Und wie immer war er konsequent. „Ich werde ihn so restaurieren, dass die nächsten 50 Jahre Ruhe ist“, sagte er. Im Dezember 2018 war bereits deutlich zu sehen, was er damit meinte. Der hohe Aufbau und das Deck waren abgerissen und ohne seinen Ballast belegte der Vogel mit seinen mehr als 17 Metern beinahe die gesamte Länge der Werfthalle in Radolfzell.

Selbst in diesem Zustand machte „Marabu“ noch mächtig einen auf Präsenz. Wer an ihm hochschaute, konnte nicht anders, als über seine Dimensionen zu staunen. Und trotz seines desolaten und gerupften Zustands wirkte er wichtig und forderte Respekt. Der Kiel war nicht zu retten und bereits erneuert, die verrosteten Stahlspanten waren entfernt und durch verleimte Robinienspanten ersetzt. Sie überträfen in ihrer Dimension die Festigkeit ihrer Vorgänger, seien preisgünstiger in der Fertigung und würden dem späteren Eigner Rost und Spaltkorrosion ersparen, wie Martin sagt.

In alle Richtungen, mit Verstrebungen, Verstärkungen und Gurtbändern, stabilisierten die Bootsbauer den Rumpf. Er musste die Form für den Wiederaufbau vorgeben. Durch rechteckige Löcher, einfach in die rotten Planken gesägt, werden die neuen Spanten mit Schraubzwingen befestigt, die Lamellen im Rumpf zusammengeleimt und nach dem Verputzen provisorisch wieder an die Planken geschraubt. Waren alle Spanten ganz oder teilweise ersetzt, kamen die Planken dran. Der Meister ließ sie von unten nach oben entfernen und gleich durch die neuen ersetzen. So verloren die provisorisch festgeschraubten Spanten nie ihren Halt. Dann ruhte der Bau.

Selbstverständlich werde „Marabu“ entsprechend seinen Originalplänen zurückgebaut, versprach Josef Martin. Das nachträglich aufgebaute Deckshaus sei schließlich eine Katastrophe gewesen, und auch der Besan müsse verschwinden. „Marabu“ werde wieder zur Slup geriggt. So viel stand fest.

Mit dem Innenausbau – der alte war nur noch rudimentär vorhanden – wollte er aber warten. Er war überzeugt davon, dass sich ein Liebhaber für die schöne, schnelle Yacht mit der tragischen Vergangenheit finden würde. Mit ganz eigenen Vorstellungen vom Wohnraum für ausgedehnte Touren auf der Ostsee oder im Mittelmeer.

Neuer Eigner kommt spontan zu “Marabu”

Günter Eigeldinger, der mit einer kleinen Yacht in Martins Hafen lag, war schon 2009 um „Marabu“ herumgeschlichen. War fasziniert von der ehrfurchtgebietenden Präsenz, die die Yacht selbst als Bretterhaufen noch versprühte. Als er sie 2021 wieder sah, wagte er, nach dem Preis zu fragen. „Man muss sich Fortuna anbieten, damit sie einen küsst“, sagt er. Nach zwei Tagen stand sein Entschluss fest. Es sei eine spontane Entscheidung gewesen, gibt er zu. Eigeldinger ist 80 Jahre alt und während andere in diesem Alter ihre Yacht verkaufen, brauchte er einen neuen Plan. „Das Segeln aufgeben ist der Anfang vom Ende“, sagt er.

Im August 2022 wurde bei Martin mit Vollgas weitergeplankt. Dunkles, hartes Sipo ersetzte das ursprüngliche Swietenia-Mahagoni. Der Kajütaufbau entsprach jetzt wieder dem Plan von Rasmussen und wurde lediglich zwei Zentimeter höher gebaut.

Der 29. April 2024, als „Marabu“ nach 20 Jahren zum ersten Mal wieder das Wasser berührte, war auch für Josef Martin und seine Mannschaft ein besonderer Tag. Ohne den 640 Kilogramm schweren Mast und die 500 Kilo für den Diesel-,Wasser- und Fäkalientank schwamm er mit der Unterkante des Wasserpasses sechs Zentimeter über der Wasseroberfläche. „Die Wasserlinie stimmt“, sagt der Meister trocken.

Zwei Wochen später war es so weit. Bei Kaiserwetter und auf Hochglanz poliert präsentierte sich „Marabu“ bei seiner Taufe den Gästen. Der Holzmast, mit 20 Metern etwas kürzer als das Original, soll den Flächenschwerpunkt tiefer bringen Das topgetakelte Rigg ohne Backstagen vereinfacht das Handling für eine kleinere Crew Gleichzeitig bringt das verlängerte Vorliek der Genua ein größeres Vorsegel und gleicht damit das kleinere Großsegel aus Ein reffbares Vorsegel und ein Bergesystem mit Lazy-Jack-Leinen machen die Yacht tourentauglich, ohne ihr die Würde zu nehmen.

Marabu“ zieht zurück an die Ostsee

Für die geplanten Fahrten auf der Nord- und Ostsee ließ der Eigner eine umfangreiche Navigationselektronik installieren, von der die Mitglieder des „Marabu Sailing Clubs“ noch nicht einmal träumen konnten Ein vorausschauendes Echolot kann Hindernisse in zehn Metern Wassertiefe auf 100 Meter Entfernung orten Auf Höhe der ersten Saling ist eine Wärmebildkamera montiert Eine 400-Ampere-Lithiumbatterie versorgt die Technik mit der nötigen Energie Läuft der 80-PS-Dieselmotor, hat sie die Lichtmaschine in vier Stunden geladen.

Der Innenausbau entstand nach den Wünschen des Eigners Ursprünglich eher als Jugendherberge mit bis zu zwölf Schlafplätzen und ohne Pantry konzipiert, bietet die Kajüte heute höchsten Wohnkomfort mit Dusche, WC, Backofen und Zweiflammenherd. Das Vorschiff, früher als Segellast genutzt, ist zur großzügigen Koje geworden Will man einen Blick auf den Sternenhimmel werfen, helfen zwei Gasdruckfedern, den schweren Lukendeckel zu öffnen.

Im Frühjahr dieses Jahres tritt der wiederauferstandene „Marabu“ seine Reise zurück an die Ostsee an und spreizt dort seine Schwingen.

Technische Daten der “Marabu”

Riss der “Marabu”.Foto: Anette BengelsdorfRiss der “Marabu”.
  • Typ: 100qm Seefahrtkreuzer
  • Werft/Baujahr: Abeking & Rasmussen/1935
  • Restaurierung: Yachtwerft Martin/2024
  • Rumpflänge: 17,40 m
  • Wasserlinienlänge: 11,60 m
  • Breite: 3,46 m
  • Tiefgang: 2,20 m
  • Gewicht: ca. 16 t

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