Jochen Rieker
· 18.01.2020
Am Eröffnungsabend der boot Düsseldorf sind vor wenigen Minuten die Oscars des Bootsbaus vergeben worden. Und die Gewinner sind ...
Jedes Jahr kommen in Europa rund 50 neue Segelboote auf den Markt. 16 von ihnen waren für die Wahl zur "European Yacht of the Year 2020" nominiert. Nur fünf von ihnen können sich mit dem Titel schmücken.
Die Auswahl traf eine Fachjury der zwölf führenden Segelmagazine Europas. Deren Chefredakteure und Testchefs trafen sich im Oktober im spanischen Port Ginesta, unweit von Barcelona, um alle Kandidaten eine Woche lang unter verschiedenen Bedingungen zu erproben – von Stark- bis Leichtwind, bei gut zwei Meter Seegang wie in glattem Wasser. Dabei legten die Yachten insgesamt mehr als 2500 Seemeilen zurück.
Alle Entscheidungen werden von der Mehrheit der Jury getragen; eine Nationalitäten-Klausel verhindert, dass die Juroren Kandidaten aus dem eigenen Land bevorteilen. Die Auswahl für die jeweilige Yacht des Jahres spiegelt dabei das Geschehen am Gesamtmarkt wider, wo der aktuelle Trend einerseits hin zu immer größeren, individuell eingerichteten und mit zahlreichen Extras ausgestatteten Yachten geht; andererseits sind sportliche Yachten diesmal so präsent wie lange nicht.
Erstaunlich ist die drückende Dominanz französischer Kandidaten. Seit 2004 konnten französische Werften 31-mal den Titel "European Yacht of the Year" einheimsen. Zum Vergleich: Deutschland und Italien, die beiden nächstplatzierten Herkunftsländer, brachten es im gleichen Zeitraum zusammen nur auf 16 Titel.
Die kleinste Fahrtenyacht von Beneteau wiederholte den Erfolg ihrer großen Schwester, der Oceanis 46.1, aus dem Vorjahr. Das bei Konzerntochter Delphia Yachts in Polen gebaute Modell bietet bei kompakten Außenmaßen erstaunlich viel Wohnlichkeit und Komfort, urteilt die Jury. Auch die Segeleigenschaften der Oceanis 30.1 und ihre Verarbeitungsqualität konnten überzeugen. Ein handliches, zudem erschwingliches Einstiegsmodell für vier Segler.
Gegen sehr starke Konkurrenz konnte sich die 19-Meter-Yacht aus Frankreich durchsetzen. Ihr sehr geräumiges Mittelcockpit, fast vollständig überdacht von einem Deckshaus, bietet maximalen Schutz vor Wind und Wetter, zugleich aber auch eine lässige Chill-out-Zone. Unter Deck begeistert die Amel 60 mit ihrem sehr hochwertigen und stilistisch gelungenen Ausbau mit drei geräumigen Doppelkabinen und einem hellen, gut strukturierten Salon, der einem Fünf-Sterne-Hotel nicht nachsteht.
Bei den leistungsorientierten Fahrtenyachten gewann die X 4.0 den begehrten Preis. Das Boot aus Dänemark vereint alle Tugenden, mit denen die renommierte Werft X-Yachts groß geworden ist. Es bietet jede Menge leicht abrufbare, gut kontrollierbare Power – nebst sehr gediegenem und wohnlichem Ausbau. Eine selten gut gelungene Synthese aus Kraft und Komfort.
Bei der Nominierung der aktuellen Kandidaten zeigte sich, dass das Angebot an schnellen, auch von kleinen Crews bedienbaren Rennyachten größer denn je ist. Um dem gerecht zu werden, schuf die Jury eine neue, eigene Kategorie. In dieser Gruppe holte die Dehler 30 od aus Greifswald den Titel. Die Marke hat eine weit zurück reichende Tradition von Racern und knüpft mit dem für Ein- oder Zweihandbetrieb optimierten Boot wieder an alte Erfolge an. Die Dehler 30 od ist sehr leicht gebaut, sehr konsequent konzipiert und das derzeit attraktivste Modell seiner Art.
Zur Preisverleihung erschien die Crew von Dehler und Hanseyachts in Abteilungsstärke. CEO Jens Gerhardt hatte alle Mitarbeiter, die an der drei Jahre währenden Entwicklung beteiligt waren, mit auf die Bühne gebeten, darunter auch Kalle Dehler, dessen letztes Projekt der One-Design-Renner war, Konstrukteur und Designerin von Judel/Vrolijk sowie die Crew von Speedsailing in Rostock, die als Berater fungierten – ein Moment, der die Komplexität der Unternehmung verdeutlichte.
Mit dem Innovation Award kürte die Fachjury die ClubSwan 36, das jüngste Modell der Nobelmarke Nautor. Die Finnen haben mit ihr eine radikal moderne Rennmaschine vorgestellt, das aktuell aufregendste Boot aus Serienfertigung. Es verfügt über alle Zutaten des Hightech-Yachtbaus – von den extremen Rumpflinien bis hin zu einem Carbon-Flügel in der Schiffsmitte, der sich per Leinenzug in Position bringen lässt und unter Wasser Auftrieb erzeugt. Je schneller die Fahrt, desto größer der hydrodynamische Effekt.
Die ClubSwan 36 wird mit zunehmender Geschwindigkeit quasi immer "leichter" – und damit noch rasanter. Sie fühlt sich so an wie ein fliegender Teppich. Das Erstaunlichste ist, dass die ClubSwan ihre beeindruckenden Leistungswerte ohne jede Tücke oder Nervosität abliefert. Sie gibt sich gleichermaßen rasant und sanft.
Weil seine Yacht wegen des sehr hohen Preises von knapp 500.000 Euro bei den Regattabooten der Dehler 30 unterlag, hatte Firmenpatriarch Leonardo Ferragamo bereits den Saal im Congress Centrum Ost der Messe verlassen – zu groß seine Anspannung, zu tief die Enttäuschung. Doch seine Mitarbeiter brachten ihn zum Umkehren, als klar war, dass die ClubSwan zum Innovationssieger gekürt wurde. Am Ende stand der Werftbesitzer strahlend neben Vice President Enrico Chieffi, CEO Giovanni Pomati und Konstrukteur Juan Kouyoumdjian.
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