Hand aufs Herz – kommen bei Ihnen in jedem Jahr neue Seekarten an Bord? Und wenn ja, in traditioneller Papierform oder als elektronische Karte für den Plotter oder das Tablet? Beide Systeme haben Vor- und Nachteile, das steht genauso außer Frage wie die Tatsache, dass kaum ein Törn ohne Seekarte geplant werden und gelingen kann. Notwendig sind sie also ohne Frage – aber ist die Papiervariante noch zeitgemäß?
Die Entwicklung der Papierseekarten begann Ende des 18. Jahrhunderts. An der deutschen Nordseeküste fanden die ersten Vermessungen 1867 statt. In dieser Zeit wurde die Datenerhebung für die Produktion von Seekarten zunehmend behördlich zentralisiert. In den USA hatte man da bereits begonnen, Logbuch-Einträge auszuwerten, um Karten der Windverhältnisse auf See zu erstellen, aus denen sich später Pilot Charts entwickelten. Im Jahr 1861 wurde das Hydrographische Bureau im preußischen Marineministerium gegründet, seit 1990 gibt es das Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie (BSH). Es ist unter anderem dafür zuständig, amtliche deutsche Seekarten herzustellen und herauszugeben. Um die Angaben in den Seekarten erstellen, kontrollieren und korrigieren zu können, führen BSH-Nautiker regelmäßig Vermessungsfahrten durch.
Das Verfahren ist bei den hydrografischen Ämtern weltweit ähnlich. Sie erheben die Daten, mit denen sie Seekarten herstellen oder diese als Lizenz privaten Seekartenverlagen zur Verfügung stellen. In Deutschland sind das beispielsweise der NV-Verlag oder der Delius Klasing Verlag, die handliche Papierseekartensätze für den Einsatz auf Sportbooten anbieten.
Nach wie vor ist es bei vielen Eignern und Skippern Selbstverständlichkeit und gilt als gute Seemannschaft, bei diesen Anbietern zu Saisonbeginn einen aktuellen Seekartensatz des geplanten Reviers zu erwerben. Doch der Trend weg vom Papier und hin zur elektronischen Seekarte ist unaufhaltsam. In den USA beispielsweise wird die Saison 2024 die letzte sein, in der das zuständige Amt, die National Oceanic and Atmospheric Administration (NOAA), noch Papierkarten herausgibt. „Alle traditionellen NOAA-Papierseekarten werden bis Januar 2025 abgeschafft“, heißt es seitens der Behörde. Man habe bereits damit begonnen, einzelne Seekarten aus dem Verkehr zu ziehen, und werde die Produktion und den Unterhalt der traditionellen Papierseekarten und der damit verbundenen Rasterkartenprodukte und -dienste bis Januar 2025 einstellen. „Seeleute und andere Nutzer von Seekarten werden ermutigt, die elektronische Seekarte, das wichtigste Seekartenprodukt der NOAA, zu verwenden“, heißt es in den Veröffentlichungen der NOAA.
Dieser Schritt wurde bereits im November 2019 angekündigt. Begründet wird er damit, dass „die Einstellung der traditionellen Kartenproduktion es der NOAA ermöglichen wird, mehr Ressourcen für die Verbesserung der elektronischen Navigationskarten bereitzustellen.“ Der Fokus liegt künftig also komplett auf den ENC-Vektorkarten. ENC steht dabei für Electronic Navigational Charts und meint die amtlichen hydrografischen Vektordaten. Allerdings wird die Behörde weiterhin Rasterkarten für ihre zertifizierten Kartenagenten zur Verfügung stellen, bei denen diese dann noch auf Papier erworben werden können. Ob sie dann jedoch noch jährlich aktualisiert werden, ist bislang völlig unklar. Die US-Behörde hat im Rahmen dieser Umstellung allerdings ein spannendes Tool eingeführt: Jeder hat die Möglichkeit, sich individuelle Seekartenausschnitte aus offiziellen Daten als PDF zu erstellen. Unter https://devgis.charttools.noaa.gov/pod/ kann man sich ein Bild davon machen, wie es funktioniert. Anleitungen helfen dabei.
Im Vereinigten Königreich hat das dortige hydrografische Amt, das UK Hydrographic Office (UKHO), im Juli 2022 angekündigt, seine Papierkartenproduktion bis Ende 2026 einzustellen, um den Schwerpunkt rund um digitale Navigationsprodukte und -dienstleistungen ausbauen zu können. Die Pläne, die weit verbreiteten Admiralty Standard Nautical Charts (SNCs) einzustellen, seien die Reaktion darauf, dass sowohl in der Berufs- als auch in der Freizeitschifffahrt immer mehr digitale Produkte genutzt würden. „Das digitale Navigationsportfolio von Admiralty Maritime Data Solutions kann nahezu in Echtzeit aktualisiert werden, was den Schutz des menschlichen Lebens auf See (Solas) erheblich verbessert“, begründet das UKHO den Schritt.
Der Umstellungsprozess sollte in enger Abstimmung mit britischen und internationalen Beteiligten abgestimmt werden, etwa mit Vertriebspartnern, Kunden aus dem Verteidigungsbereich, kommerziellen und Freizeitnutzern, internationalen Regulierungsbehörden und Kollegen aus der weltweiten hydrografischen Gemeinschaft. Im Zuge dieses Prozesses wurde jedoch klar, dass die Ein- und Umstellung mehr Zeit erfordern würde. Die Einstellung der Papierkarten wurde daher auf einen noch nicht weiter konkretisierten Termin nach 2030 verschoben.
Als die YACHT 2018 das Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie besuchte, um mit den Seekarten-Experten auf Vermessungsfahrt zu gehen, sah auch der damalige Referatsleiter des Nautischen Informationsdienstes, Stefan Grammann, die Bedeutung von Papier bereits immer weiter schwinden. „Ich gebe aber keine Prognose ab, wann es keine Papierseekarten mehr geben wird“, sagte er damals.
Mittlerweile sind die BSH-Sportbootkartensätze im handlichen Din-A2-Format eingestellt worden. Nun können Segler noch auf die Einzelkarten zurückgreifen, die im Din-A1-Format angeboten werden, dieselben Informationen enthalten wie die ehemaligen kleinformatigeren Karten und erst auf Bestellung gedruckt werden. Das hat auch Vorteile, wie Udo Cimutta, Nautiker beim Nautischen Informationsdienst des BSH, erläutert: „Das Print-on-Demand-Verfahren trägt den aktuellen Anforderungen Rechnung: Sie bestellen hier eine Karte, dann kommt die aus dem Drucker und ist auf Stand berichtigt.“
Sind Papierseekarten vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen also noch zwingend erforderlich oder nur noch nettes navigatorisches Beiwerk? Dass sie an Bord von Sportbooten mitgeführt werden müssen, ergibt sich aus dem internationalen Solas-Regelwerk und der deutschen Schiffssicherheitsverordnung. Amtlich müssen diese Karten, anders als in der Berufsschifffahrt, aber nicht sein. Es genügen amtlich anerkannte, also die Kartensätze privater Verlage, erläutert Udo Cimutta.
Doch während in der Berufsschifffahrt und auch auf nach Solas ausrüstungspflichtigen Yachten unter bestimmten Voraussetzungen auf Papierseekarten verzichtet werden darf, ist das auf Sportbooten bisher nicht unbedingt der Fall. Cimutta erläutert: „In der Berufsschifffahrt dürfen baumustergeprüfte ECDIS-Anlagen an Bord sein, es müssen amtliche ENCs genutzt werden, und es muss am wöchentlichen Update-Dienst teilgenommen werden.“ Sind diese Kriterien erfüllt, sind Papierseekarten nicht mehr zwingend vorgeschrieben. „Meine persönliche Meinung als gefahrener Kapitän und Nautiker ist aber“, so Cimutta, „dass noch eine ganze Weile Papierseekarten auf der Brücke zu finden sein werden. Einem geschulten Auge liefern sie immer noch alle Informationen auf einen Blick. Diese Bedeutung wird die Seekarte noch sehr, sehr lange behalten.“
Dennoch sieht er die Zeit für den Wandel auf Sportbooten gekommen: „Es ist durchaus an der Zeit, dass der Gesetzgeber Rahmenbedingungen definiert, unter denen auch auf kleinen Booten mit elektronischem Equipment navigiert werden darf. Das ist einfach gelebte Praxis.“
Bisher aber kennt jeder, der mit Plotter oder Tablet arbeitet, den Hinweis beim Öffnen der Karte, dass es sich dabei lediglich um eine Navigationshilfe handelt. Der auf Sportbootrecht spezialisierte Rechtsanwalt Dr. Heiko Wychodil erläutert dazu, dass auf rein privat genutzten Yachten auch bei der Seekartennutzung die „seemännischen Sorgfaltspflichten“ beachtet werden müssen. „Letztere sind aber nirgends definiert, sondern ergeben sich im Wesentlichen aus der sogenannten guten Seemannschaft“, so Wychodil. „Auf einer Privatyacht würde ich eine Papierseekarte im größeren Maßstab mitführen und die Detailansichten der elektronischen Seekarte entnehmen.“
Vor diesem Hintergrund und vor allem, um auch im Versicherungsfall nachweisen zu können, dass sorgfältig geplant wurde, müssen die Karten aktuell sein. Was genau das allerdings bedeutet, wird nicht etwa von der Wasserschutzpolizei im Rahmen von Routinekontrollen überprüft. „Gleichwohl kann es sein, dass Versicherungen bei Schadensfällen nachprüfen, ob eine aktuelle oder berichtigte Seekarte an Bord war. Solche Nachprüfungen berühren jedoch den Bereich des Zivilrechts und somit nicht den originär zuständigen Bereich der Polizei“, heißt es seitens des Landespolizeiamtes Kiel.
Warum aber sollten Segler überhaupt auf Papierseekarten verzichten wollen? Schließlich bieten sie, auch wenn wohl kaum noch eine Crew ohne elektronische Karte segelt, viele Vorteile. Für die Törn- und Routenplanung geben sie einen guten ersten Überblick, Distanzen lassen sich auf einen Blick erkennen. Sie schulen das Gesamtverständnis, die Sinne und die Orientierung und suggerieren weniger Scheinrealität. In ihrer Einfachheit sind Papierkarten unübertroffen, es braucht keine Einarbeitung in die Einstellungen wie beim Plotter. Zudem sind sie – bis aufs Überbordfallen und Durchnässen – ausfallsicher.
Udo Cimutta: „Es gibt bei vielen Skippern eine gesunde Skepsis gegenüber den elektronischen Medien. Denn es wird ja eine hohe Genauigkeit suggeriert. Wenn man damit nicht mit gesundem Augenmaß umgeht, sondern es als Abbild der Realität sieht, kann das zu Problemen führen.“
Dass elektronische Seekarten und vor allem Vektorkarten so beliebt sind, liegt an der hohen Informationsdichte, die allerdings auch zu Unübersichtlichkeit führen kann. Anders bei elektronischen Rasterkarten, die das digitale Abbild der Papierkarte sind und genau deshalb auch ihre Fans haben. Die Vorteile von elektronischen Seekarten liegen auf der Hand: Mit dem Plotter lässt sich bei Wind, Lage und Nässe im Cockpit trotz klammer Finger immer noch besser hantieren als mit einer flatternden Papierkarte. Routen sind schnell geplant oder umgeplant, Updates rasch und einfach installiert.
Doch gerade der Umgang mit dem Autorouting muss kritisch erfolgen, wie Beispiele von absurden Routenvorschlägen immer wieder zeigen. Und auch mit den vielen Zoomstufen muss sorgfältig umgegangen werden, wie die in diesem Kontext immer wieder genannte schwere Havarie des Volvo-Ocean-Racers „Vestas Wind“ beim Rennen um die Welt 2014/15 belegt. BSH-Experte Cimutta weist zudem darauf hin, dass der Berichtigungsstand bei elektronischen Seekarten nur schwer zu erkennen ist.
Wie also könnte es weitergehen – werden Papierseekarten auch in Deutschland in absehbarer Zeit nur noch als ausfallsichere Redundanz zum Plotter an Bord sein?
Der Trend ist klar erkennbar: Er führt weg vom Papier, hin zum Digitalen. Doch die Entwicklung beim UKHO in Großbritannien zeigt, wie komplex und langwierig der Prozess ist, sich von der Papierkarte zu trennen. Udo Cimutta gibt Anlass zur Hoffnung, dass sie Segler hierzulande noch eine Weile begleiten wird. „Die Papierseekarte in ihrer klassischen Bedeutung für die Navigation ist tot“, so der BSH-Nautiker. „Aber solange die Anforderung danach besteht, müssen wir als Amt dafür sorgen, dass Papierseekarten herausgegeben werden. Das wird uns noch eine ganze Zeit lang begleiten.“
Als erfahrener Skipper, Ausbilder und Mitentwickler von Navigationslösungen beobachtet er den Seekartenmarkt genau: Klaus Schlösser aus Bremen über die Chancen und Herausforderungen des Wandels.
Klaus Schlösser: Ich bin mir sicher, dass wir diesen Trend nicht aufhalten können. Persönlich möchte ich aber immer auch Papierseekarten mit an Bord haben. Als Ausbilder würde ich es immer empfehlen.
Wir laufen durch die digitalen Seekarten Gefahr, dass wir das große Ganze, aber auch wichtige Details nicht erfassen. Ich streite die Digitalisierung nicht ab, im Gegenteil, ich bin ja auch in der App-Entwicklung tätig. Aber in puncto Übersichtlichkeit und Handling finde ich es sehr wichtig, eine Papierseekarte zu haben. Oder ein entsprechend großes Tablet. Aber die gibt es auf dem Markt derzeit nicht.
Die Hersteller der Kartenplotter versuchen im Wettbewerb immer mehr Features in ihren Produkten unterzubringen, um marktfähig zu sein. Die Seekarte, also das, was ich wirklich brauche, ist nur ein kleiner Bestandteil dessen, was die Geräte können. Da verliert man leicht den Überblick über die wesentlichen Funktionen. Gerade wenn man chartert und von einem Hersteller zum nächsten wechselt. Vor allem dann ist auch wichtig zu erkennen, ob die Karte auf dem neuesten Stand ist oder wie ich beispielsweise schnell checken kann, ob sie auf WGS 84 eingestellt ist.
Das ist durchaus eine gängige Variante. Was ich persönlich nicht mag, ist ein Medienbruch. Wenn ich also Papierseekarten von dem einen und elektronische Seekarten vom anderen Hersteller nutze und damit nicht das gleiche Kartenbild. Für die Planung verwende ich Papierkarten und lege mir für meine Etappe die entsprechenden zurecht. Ich mag es, damit schnell einen Überblick zu bekommen. Für das Abfahren der Route nehme ich den Kartenplotter dazu.
Wichtig wäre, dass unsere Ausbildung in Deutschland auch schult, mit den Tücken der digitalen Seekarte umzugehen. Stichwort falsche Zoomstufen oder nicht auf einen Blick sehen können, dass sich hinter einer Information noch weitere wichtige Daten verstecken. Ich finde es gefährlich zu sagen, das kann sich jeder über Learning by Doing aneignen. Es gibt genügend Situationen, in denen man bestimmte Sachen auf dem Plotter schnell übersehen kann. Und dann ist die Frage: Bin ich geschult genug, damit umzugehen? Das ist ähnlich beim Thema Radar. Es gibt viele tolle Geräte, auch für die Sportschifffahrt. Aber im Grunde genommen sind viele in der Anwendung nicht ausgebildet. Ist es dann überhaupt ein zuverlässiges Hilfsmittel, auf das ich mich verlassen kann?
Aus Herstellersicht wäre es wünschenswert, dass es einen begleitenden Prozess gibt, bei dem sich alle an einen Tisch setzen und gemeinsame Standards für die digitalen Sportbootkarten und Geräte erarbeiten.