Bis zum Ersten Weltkrieg hatte jeder Segelschiff-Seemann eine Seekiste an Bord dabei. Dann setzten sich Seesäcke und Koffer durch. Doch obwohl die Kiste jahrhundertelang neben der Koje das einzig Private des Seemanns war, ist über diese treue Begleiterin wenig bekannt. Sie war den meisten Betrachtern wohl schlicht zu banal.
„Als letzte Zeugnisse längst verstorbener Seeleute gewähren die Kisten bis heute einen Einblick in die harten damaligen Lebensverhältnisse auf den Schiffen, die mit der oft beschworenen Seefahrerromantik wenig zu tun hatten“, sagt Peter Barrot. Seit 25 Jahren restauriert, sammelt und erforscht er Seekisten. „Leider widmet sich ja kaum eines der maritimen Museen den Lebensumständen des einfachen Seemanns.“
Peter Barrot wird 1942 in Bremen geboren. Sein Vater ist selbst zur See gefahren und baut später eine Reederei auf. Er weckt das maritime Interesse des Sohnes, der dennoch nach ersten eigenen Erfahrungen beschließt, nicht beruflich zur See fahren zu wollen. Stattdessen studiert Barrot Betriebswirtschaftslehre und Geografie und arbeitet danach in der Wirtschaftsprüfung, vornehmlich für Reedereien: in London, Hamburg und Bremen.
1977 zieht er mit der Familie nach Nordfriesland und ist fortan als kaufmännischer Geschäftsführer einer Bildungseinrichtung tätig. Was das mit Seekisten zu tun hat? Noch wenig.
Peter Barrot interessiert sich ganz allgemein für Seefahrt und Seefahrtsgeschichte. Mit dem eigenen 30er-Jollenkreuzer segelt er im Nordfriesischen Wattenmeer.
1994 sieht er während einer USA-Reise im Museum in Philadelphia seine erste Seekiste. 1998 wird die Leidenschaft dafür vollends entfacht. Barrot hat gerade eine ernste medizinische Diagnose erhalten. Da er schon einige Holzmöbel restauriert hat, schaut er in einem Antiquitätengeschäft nach einem Biedermeierstuhl. Den findet er nicht, kauft aber stattdessen eine ramponierte Seekiste für 80 Mark.
Barrots Ehefrau verbietet ihm, die olle Kiste ins Wohnhaus zu bringen. Also wandert sie in die Garage, wo sich Barrots Werkstatt bis heute befindet. Die Kiste ist leer. Löcher in den Innenseiten des Holzes deuten jedoch darauf hin, dass sie ehemals eine Unterteilung enthielt. Barrot besucht diverse Museen, um sich andere Seekisten anzuschauen. So erfährt er von der Beilade. Er kauft drei, vier weitere alte Seekisten – die „Problemfälle“, wie er sie nennt – und arbeitet sie auf. Dann verfasst er einen ersten Artikel über das „Vielzweckmöbel des Seemanns“. „Darin schrieb ich, dass sich die Beilade immer oben links befindet. Um dann als Nächstes zwei Kisten zu sehen, in denen sie rechts war.“ Die Beilade ist das Staufach, in dem der Seemann besondere Habseligkeiten wie Bilder und Briefe von der Familie, ein Tagebuch, Pfeifen und Tabak oder auch ein Stück Kernseife lagerte. Rechtshänder bevorzugen die Beilade links in der Kiste, Linkshänder hingegen rechts.
Nur, was in die Seekiste hineinpasste, war während einer Reise mit an Bord. Die Mutter oder später die Ehefrau packte den „Schatz des Seemanns“. Ins Hauptfach kamen Ölzeug und Südwester, dicke Socken, Unterwäsche, Hemden, blaue Düffelhose und Lederhose, Pudelmütze, Wollpullover, Wasserstiefel, Kopfkissen und Zeugsack für die Schmutzwäsche. Mit mindestens zwei Personen musste die Seekiste, die der Seemann entweder selbst baute oder kaufte, an und von Bord getragen werden. Zu diesem Zweck waren zwei Fallhenkel an der Kiste befestigt, oft kunstvoll aus Tauwerk gefertigt.
Je zwei Kisten standen – festgelascht – vor zwei Etagenkojen. Das Vielzweckmöbel diente seinem Besitzer nicht nur zum Verstauen von Hab und Gut. Es war auch Sitzgelegenheit, Werkbank, Spieltisch oder Leiterstufe in die obere Koje. Wenn der Matrose mit seinen durchnässten Klamotten nicht auch noch seine Matratze nass machen wollte, nutzte er die Seekisten als Liege.
Barrot besuchte und kontaktierte inzwischen über 120 maritime Museen, um mehr über Seekisten zu erfahren. Wie wurden sie gebaut? Wem gehörten sie, und was befand sich darin? Zu jeder Kiste notiert er auf einer Karteikarte Maße, Ausstattung, Alter oder Besonderheiten wie ein aufgemaltes Schiff oder den Namen des Eigentümers. Das Alter einer Seekiste kann er anhand der verwendeten Tragegriffe, Bänder oder Scharniere zur Befestigung des Deckels und Schlösser bis auf zwanzig Jahre genau bestimmen. Es gibt sogar Schlösser, die klingeln, wenn der Schlüssel umgedreht wird. Eine Vorsichtsmaßnahme, damit kein wertvoller Tabak gestohlen wurde.
Die wenigen Seekisten, die heute noch erhalten sind, stammen aus dem 19. Jahrhundert. Es ist jedoch belegt, dass schon die Wikinger welche nutzten. Die vermutlich älteste noch erhaltene Seekiste stammt aus dem Jahr 1693. Barrot hat sie in Finnland aufgespürt. Sie gehörte Ibe Knudsen von der Knudswarft auf der Hallig Gröde, quasi vor Barrots Haustür im Nordfriesischen Wattenmeer gelegen.
Im Laufe der Jahrhunderte bewahrte sich ein typischer Baustil. Eine Standard-Seekiste ist zwischen 0,90 und 1,00 Meter lang und wiegt um die zwanzig Kilogramm. Ihre nach oben schmaler werdende Trapezform erleichtert das Öffnen des Deckels. Die meisten Kisten wurden aus Nadelholz gezimmert, einige aus Eiche oder Edelhölzern. Kampfer, ein Holz aus Fernost, hat einen aromatischen Duft, der sogar Insekten fernhält. „Gestrichen waren die meisten Kisten grün. Die Farbe war überall billig herzustellen und hatte, hochgiftig, wie sie war, eine konservierende Funktion“, weiß Barrot. „Außerdem erinnerte sie an Wiesen und Wälder in der Heimat.“ Mancher verzierte seine Kiste selbst, gern mit den Symbolen für Glaube, Liebe, Hoffnung, also Kreuz, Herz und Anker. Andere leisteten sich einen professionellen Maler, der ein Schiff, eine Landschaft oder abstraktere Verschönerungen abbildete.
Die Kapitäns- oder Kommandeurskisten hatten innen zusätzlich zur Beilade meist noch ein „nautisches Fach“. Darin wurde der Oktant oder Sextant und/oder der Chronometer in einem kleineren Kasten verstaut. Oben an der Rückwand war innen teilweise eine „hohe Kante“ angebracht – ein schmales Staufach für das Fernrohr oder gerollte Seekarten.
Rund 90 Seekisten hat Peter Barrot seit 1998 restauriert und schätzt die dafür investierte Arbeitszeit auf rund 10.000 Stunden. Seine erste Seekiste hat seit der Aufarbeitung einen Ehrenplatz im Wohnzimmer. Die gesamte eigene Sammlung besteht aus rund 70 Seekisten, verteilt über weitere Zimmer im Haus und ordentlich aufgestapelt in der Garage und im Gartenschuppen. Die Bandbreite reicht von der Truhe eines Walfängers um 1730 über Werkzeugkisten von Schiffszimmerleuten bis zur neuzeitlichen Replik. „Aber kein mieser Nachbau aus angemaltem Faserholz. So was gibt es ja auch.“ Verschiedene kleinere Kisten wie eine Bordapotheke, eine Heuerkiste oder die kleine Kiste eines englischen Schiffbauers, die Proben von hundert verschiedenen Holzsorten enthält, ergänzen die Sammlung.
„Ich könnte meine Sammlung Stück für Stück einzeln übers Internet loswerden. Das ist eine gesuchte Kistengröße für völlig artfremde Nutzung, weil eine Seekiste deutlich handlicher ist als etwa eine Aussteuertruhe, von denen es noch Tausende gibt“, sagt Peter Barrot über seine Sammlung, die weltweit die größte ist. „Viel sinnvoller und schöner wäre aber, wenn zusammenbleibt, was zusammengehört“, sagt der Sammler und wünscht sich, dass seine Kisten dauerhaft in einem Museum an das Leben an Bord der Segelschiffe erinnern. In diesem Jahr gab es eine Sonderausstellung im Bremer Museum Schloss Schönebeck, einige Exponate sind als Dauerleihgabe weiterhin dort zu sehen.
Das Buch von Peter Barrot „Seekisten. Vielzweckmöbel der Seeleute. Ein Beitrag zur Sozialgeschichte der Seefahrt“ erschien 2011 im Hauschild Verlag Bremen, es ist heute nur noch antiquarisch erhältlich. ISBN 978-3-89757-483-0