Lars Bolle
, Felix Keßler
, Tina Kielwein
· 12.07.2019
Ein verunglücktes Crewmitglied im Notfall wieder ansteuern und sicher aus dem Wasser bergen – die wichtigsten Handgriffe, Manöver und Bergesysteme im Überblick
Fiel ein Besatzungsmitglied über Bord, rief der Segler von einst: "Mann über Bord". Offiziell gebräuchlich und politisch korrekt wäre im Sinne des Gender-Gedanken heute "Person über Bord". Da das im Notfall allerdings nicht leicht über die Lippen geht, sind Segler zum "Mensch über Bord" übergegangen. Das ist ebenfalls geschlechtsneutral, aber mit MOB genauso abzukürzen wie das tradierte "Mann über Bord". Ungeachtet des korrekten Begriffs: Wenn ein Crewmitglied beim Segeln im Wasser landet, muss schnell, präzise und sicher gehandelt werden.
Welche Manöver sind die effektivsten, um mit der Yacht schnellstmöglich und sicher zu einem über Bord gegangenen Mitsegler zurückzukehren? Wie lässt sich eine stabile Leinenverbindung herstellen? Was ist, wenn die zu rettende Person bewusstlos ist? Wir haben verschiedene Manöver, Rettungsmittel und Bergesysteme auf See ausprobiert und dabei Erstaunliches herausgefunden, wie Sie auf den folgenden zwei Seiten lesen können.
Das ideale MOB-Manöver, das sich als Patentrezept auf jedes Notfall-Szenario übertragen lässt, gibt es nicht. Wind, Welle, Crewstärke und Schiffstyp haben Einfluss darauf, welches Manöver das richtige ist. In Gefahrensituationen an Bord gilt jedoch immer: Skipper und Crew müssen ihre Yacht kennen. Wie verhält sich das Schiff bei Strömung oder starkem Wellengang, wie steuert es sich unter Maschinenkraft, können die Segel im Notfall auch einhand bedient werden? Das klappt nur mit Übung, und selbst der erfahrene Regattasteuermann tut sich zeitweise schwer, einen präzisen Aufschießer in der Nähe eines Über-Bord-Gefallenen zu segeln. Deshalb sollten Skipper und Crew sich vor ihrem ersten Schlag nicht nur theoretisch mit der Frage auseinandersetzen, welche Rettungsmanöver funktionieren können, und die Rollen für den Ernstfall klar verteilen.
Wenn ein Besatzungsmitglied über Bord geht, ist Schnelligkeit gefragt. Das Schiff muss zügig und sicher zu ihm zurückkehren. Bei einigen MOB-Manövern hilft es deshalb, den Motor zur Unterstützung einzusetzen. Bei einem Manöver unter reiner Maschinenkraft werden die Segel unmittelbar nach dem Überbordfallen im Wind geborgen, und der Motor wird gestartet. Dann wird gedreht und zur Unglücksstelle zurückgefahren. Neben dem Verunglückten wird aufgestoppt und sofort ausgekuppelt, damit keine Verletzungen durch den Propeller entstehen können. Ein solches Manöver hat den Vorteil, dass die Segel dem Wind keine Angriffsfläche mehr bieten und das Schiff weniger stark abtreibt. Da die Crew allerdings zunächst mit dem Einholen der Segel beschäftigt ist, besteht die Gefahr, dass der Verunglückte außenbords aus dem Blickfeld gerät.
Das bekannteste Manöver unter Segeln ist die Q-Wende. Ihr Q-förmiger Kurs vermeidet das – bei Wind häufig nicht ungefährliche – Halsen. Auch hier ist Teamwork gefragt, da sich die Yacht bei diesem Manöver zunächst von der Person im Wasser entfernt. Ein Crewmitglied muss den Überbordgegangenen ständig im Auge behalten. Gleichzeitig braucht der Steuermann Informationen über die Richtung, in die sich der MOB im Verhältnis zum Schiff bewegt, um seinen Rettungskurs unter Segeln oder mithilfe von Maschinenkraft entsprechend anpassen zu können.
Für eine sichere und schnelle Rückkehr zu dem im Wasser Treibenden ist die Q-Wende aber nicht das einzig mögliche Rettungsmanöver. Je nach Windverhältnissen, Seegang, Kurs und Besatzungsstärke können auch andere klassische Manöver zielführend sein.
Ist die Yacht sicher zu dem verunglückten Crewmitglied zurückgekehrt, folgt eine Mammutaufgabe: die Person muss aus dem Wasser wieder an Bord geholt werden. Der wichtigste Schritt hierfür ist bei jeder Rettungsaktion, so schnell wie möglich eine stabile Leinenverbindung zwischen Yacht und MOB herzustellen. Dabei können unterschiedliche Rettungssysteme helfen. Rettungsmittel wie Bergeschlaufe, Wurfleine, Rettungskragen oder Catch & Lift werden direkt über Bord geworfen und müssen von der zu rettenden Person entgegengenommen werden. Andere, wie etwa Rettungsnetz oder Pelikan, werden direkt an der Yacht montiert.
Beim Zuwerfen der Rettungsmittel ist Präzision gefragt. In einer Gefahrensituation ist unter Anspannung auf die erforderliche Zielgenauigkeit nicht immer Verlass. Daher kann es hilfreich sein, wenn das Schiff den Über-Bord-Gegangenen einkreist. Allerdings hat das Manöver auch seine Tücken. Je nach Leinenlänge müssen Wende und Halse beim Einkreisen sehr schnell gesegelt, der Wendekreis jedoch gleichzeitig klein gehalten werden. Wird der Radius zu groß, zieht die Yacht die Leine erfolglos hinter sich her. Dann kommt es auf die Qualität der Rettungsmittel und deren Schleppwiderstand an. Modelle, die auf dem Wasser laufen (wie etwa schwimmfähige Rettungsleinen), folgen der Yacht in der Regel sauber im Kielwasser und sind daher schwieriger zu greifen als Rettungsmittel, die im Wasser mehr Widerstandsfläche bieten (wie bestimmte Bergeschlaufen). Um der Person im Wasser das Greifen und Festhalten der Leine zu erleichtern, muss der Skipper rechtzeitig aufstoppen. Dadurch verringert sich zudem der Zug auf der Leine, sodass das entsprechende Rettungsmittel sicher angelegt werden kann. Komplizierter wird es, wenn der Verunglückte das Bewusstsein verloren hat und nicht mehr aktiv mithelfen kann, aus dem Wasser zu gelangen. In diesem Fall muss ein weiteres Crewmitglied zur Unterstützung ins Wasser geschickt werden. Dies funktioniert jedoch nur unter Bedingungen, welche diese Person nicht ebenfalls gefährden. Eine Leine sorgt für die nötige Sicherung, ein Neoprenanzug bietet reichlich Auftrieb und Bewegungsfreiheit. Ergänzend sollte eine Automatikweste mit deaktivierter Automatikfunktion angelegt werden.
Ist eine Leinenverbindung zwischen Boot und der Person im Wasser hergestellt, gilt es, diese wieder zum Schiff zurückzuziehen. Hierfür ist die Qualität der Schwimmleine entscheidend, sie wird in der Regel Hand über Hand eingeholt. Hartes und glattes Tauwerk schneidet in die Haut und lässt sich insbesondere nass schlecht greifen. Eine weiche, lange Wurfleine mit Gurtschlaufe, wie etwa das Modell von KIM (getestet im umfangreichen Rettungsmitteltest in unserer YACHT Ausgabe 18/2017), vereinfacht die Bergung.
An den Heckkörben vieler Yachten sind Rettungssets, bestehend aus Wurfleine und Rettungskragen, auch "Hufeisen", angebracht. Wie der YACHT-Rettungsmitteltest 2017 ergab, eignen sich die Kragen jedoch nur bedingt zum Heranziehen und gar nicht zur Bergung eines Verunglückten: Auch wenn die Hufeisen im Wasser besser zu greifen sind als eine bloße Leine, lassen sie sich mit Rettungsweste nur sehr mühsam oder überhaupt nicht anlegen. Starre Rettungskragen sind für das An-Bord-Holen gar nicht erst vorgesehen, diese Rettungsmanöver enden deshalb vorläufig an der Bordwand. Zum Bergen des Überbordgegangenen müssen andere Bergesysteme (wie Catch & Lift oder Rettungsnetz, beschrieben weiter unten im Artikel) genutzt werden.
Um einiges besser eignen sich hier Rettungssysteme mit integrierten Bergeschlaufen. Die Schlaufen lassen sich auch mit Rettungsweste anlegen und erleichtern das An-Bord-heben mit dem Fall (siehe Fotostrecke auf Seite 3). Das Modell Lifesling II von Westmarine (Testsieger im YACHT-Rettungsmitteltest 2017) befindet sich zudem beispielsweise in einer schnell zu öffnenden Klettgurt-Tasche, hat eine lange, gut auslaufende Schwimmleine, die sich sicher greifen und gut schleppen lässt. All diese Eigenschaften erleichtern die Bergung und sollten bei der Anschaffung eines Rettungsmittelsystems für die eigene Yacht berücksichtigt werden.
Der altehrwürdige Bootshaken sei der Vollständigkeit halber noch erwähnt. Jedoch ist das Einhaken in das Geschirr einer eng angelegten Rettungsweste selbst unter weniger anspruchsvollen Bedingungen ein Geschicklichkeitsspiel, für das im Notfall die Zeit fehlt. Falls das Schiff dazu mit Restgeschwindigkeit fährt, wird dieses Unterfangen – quasi im Vorbeihuschen – nahezu unmöglich. Hilfreich kann hierbei eine in die Bergeschlinge eingepickte Lifeline sein. Ihre großen Schlaufen erleichtern das Einhaken.
Bei den meisten Bergevorhaben ist das Spi- oder Genuafall unabdingbar. Direkt in die Bergeschlaufe der Rettungsweste eingepickt, kann die über Bord gegangene Person unmittelbar aus dem Wasser gezogen werden – vorausgesetzt, die Winschen sowie die Kraft des kurbelnden Retters reichen dafür aus. Es ist unbedingt zu empfehlen, dies vor Törnbeginn einmal auszuprobieren, hierfür genügt ein Trockenversuch auf dem Vorschiff.
Ein weiteres Bergesystem ist das Catch & Lift von MS Safety. Es setzt auf die Kraft eines Bremsfallschirms, der den im Wasser Treibenden in einem Lifesling über eine Umlenkrolle wieder an Bord zieht. Dazu muss im ersten Schritt die im System integrierte Umlenkrolle an Bord eingepickt werden. Anschließend wird der Lifesling als kompaktes Paket ins Wasser geworfen und der MOB mit dem Schiff umkreist. Die Leine läuft aus, und die Person im Wasser kann das Lifesling-Paket greifen. Dann wird der Bremsschirm ins Wasser geworfen, dessen Hülle wasserlöslich ist. Der Bremsschirm zieht die Person im Wasser mithilfe der Umlenkrolle zurück an Bord, die Geschwindigkeit hängt dabei von der Maschinenkraft des Schiffs ab. Daher gilt hier: Feinfühligkeit am Gas! Vorteil dieses Systems ist, dass die Rettung sehr schnell abläuft und der Überbordgegangene direkt an Bord gehoben wird. Zudem muss durch den Bremsschirm nicht unmittelbar an den verunglückten Mitsegler herangefahren werden. Allerdings wird dadurch auch vorausgesetzt, dass dieser in der Lage ist, sich selbstständig einzupicken. Das Catch & Lift System ist klein und leicht, es lässt sich also gut an Bord verstauen. Allerdings muss der Treibanker nach dem Gebrauch ersetzt werden.
Ein potenziell gefährlicher Nachteil dieser vertikalen Bergesysteme ist jedoch, dass die Person aufrecht aus dem Wasser geborgen wird. Hat sie schon länge Zeit in kaltem Wasser verbracht, normalerweise in annähernd waagerechter Lage, und ist ausgekühlt, kann beim senkrechten Bergen das kalte Blut aus den Extremitäten zurück in den Körperkern fließen und dort wegen des großen Temperaturunterschiedes zur Herzrhythmusstörungen oder Herzstillstand führen – dem sogenannten Bergungstod. Deshalb ist es wichtig, eine geborgene Person zunächst so schnell wie möglich waagerecht zu lagern und auch nur langsam wieder zu erwärmen. Bei Bergungssystemen, bei denen die Person waagerecht geborgen wird, wie bei den im Folgenden beschriebenen, ist diese Gefahr deutlich geringer.
Auch Rettungsnetze sind gängige Bergesysteme. Das Technikressort der YACHT-Redaktion hat ein System von Walden getestet, das allerdings auch seine Nachteile hat. Den Test des Rettungsnetzes, des Catch & Lift sowie des Pelikan (das beim Hersteller allerdings nicht mehr bestellt werden kann), sehen Sie im nachfolgenden Video:
Des Weiteren kann ein Über-Bord-Gegangener mit einem Rettungsfloß oder dem Segel geborgen werden, wie die folgenden Fotostrecken zeigen.
Für die unterschiedlichen Bergehilfen gilt: Je mehr Technik in die Rettungsmittel integriert ist, desto anspruchsvoller wird es, sie anzulegen bzw. einzusetzen. Umso wichtiger ist es daher, sie vor Törnbeginn einmal ausprobiert zu haben. Beide Varianten werden hier auch noch einmal im Video gezeigt.
Ebenso wichtig ist es, dass alle Crewmitglieder an Bord mit sicheren Rettungswesten ausgestattet sind. Ob mit Automatikfunktion, integriertem AIS-System, die Auswahl auf dem Westen-Markt ist groß, die Optionen sind vielfältig. In einem neuen und sehr umfangreichen Rettungswesten-Test hat die YACHT-Redaktion nahezu 30 unterschiedliche Modelle erprobt.
Generell gilt jedoch: Gar nicht über Bord zu gehen bleibt auch mit dem besten System die optimale Option!